Mystique Teil 10b
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Robyn betete, dass Morks Nase unter dem Einfluss des magischen Sonnenblumenkerns richtig gewählt hatte und folgte ihm. Milka saß wie immer auf ihrer Schulter, hielt sich an einer Haarsträhne fest und war ungewöhnlich ruhig. Sie hatte noch nicht ein Wort verloren, seitdem sie Binaera verlassen hatten.

Bald tauchte vor ihnen eine Lichtquelle auf und als sie sich näherten, stellte es sich als Sonnenlicht heraus - sie waren am Ende des Ganges angekommen. Dort wurden sie bereits erwartet und Robyn wäre der vertrauten Gestalt vor Erleichterung beinahe um den Hals gefallen.

"Ihr seid es!" rief sie froh und wurde mit energischem "Psst" sofort zum Schweigen gebracht. 

"Wir müssen sehr vorsichtig sein", mahnte der Anführer der Verhüllten leise und streng, aber Robyn erhaschte das Lächeln, das ihr seine blauen Augen unter der Kapuze hervor zuwarfen.

"Leider kann ich euch nicht auf eurem Weg begleiten, aber ich führe euch zu seinem Anfang. Folgt mir!"

Ungeschützt der gleißenden Sonne ausgeliefert und in der kargen Wüstengegend weithin sichtbar, eilten sie auf acht Füßen durch den weichen Sand. Ihr verhüllter Führer war ausreichend mit Wasserbeuteln ausgestattet, so dass sie keinen Durst zu leiden hatten. Ein Beutel unbekannter geschmacksneutraler Früchte nahm ihnen den Hunger. Selbst Mork fraß davon und Milkas Lebensgeister erwachten sichtlich nach der doppelten Stärkung. 

Ein einsam in der Wüste aufragender verkrüppelter Baum stellte sich als ihr Ziel heraus. 

"Hier geschah es?" fragte Robyn ungläubig. "Wie konnten sie hier in einen Hinterhalt der Drachen gelangen? Es ist doch weithin alles zu übersehen??"

"Lass dich nicht täuschen von dem, was dir deine Augen vorgaukeln", warnte der Blauäugige und winkte sie näher. "Schau!" 

Robyn trat neben ihn und folgte seiner ausgestreckten Hand mit ihren Augen. "Ich sehe nichts", stellte sie fest. Der Verhüllte zog sie einen halben Schritt näher zu sich heran, nahm ihren Kopf in seine Hände und veränderte leicht ihren Blickwinkel. 

Robyns Augen wurden groß und größer. Vor ihr lag - einer Fata Morgana gleich - ein kristallklarer blauer See, um ihn herum breitete sich eine wilde dschungelähnliche Landschaft aus, riesige Bäume ragten ihre Wipfel in die Höhe, Vogelgezwitscher und andere Tierlaute drangen herüber. Sie trat einen Schritt zu Seite und blickte erneut hin: nichts. Nur Wüste. Sie lief um den kleinen Krüppelbaum herum, bis sie wieder an der Seite des verhüllten Anführers stand: nichts. Nur Wüste. Dann nahm sie diesselbe Stellung ein wie zuvor, neigte den Kopf in einem bestimmten Winkel: da waren sie wieder - der See, der Dschungel - die andere Welt.

"Wie kann das sein?" fragte sie sprachlos.

"Es ist. Also frage nicht", erwiderte ihr Begleiter. "Und hier ist es, wo sich unsere Wege trennen - ihr müsst nun hier entlang und den Drachen suchen."

Robyn fühlte sich unbeschreiblich schutzlos und hielt mühsam die Tränen zurück, als sie Mork in den Nackenhaaren packte und in Richtung der Fata Morgana zog. Der Blauäugige hielt sie am Ärmel zurück, als sie an ihm vorbeigehen wollte, und drückte sie kurz an sich. "Alles Glück des Digital für dich, meine Tochter," flüsterte er in ihr Ohr und drückte ihr schnell einen Kuss auf die Stirn. Dann schubste er sie sanft in die andere Welt hinüber.

Robyn fühlte einen kurzen Moment des Schwindels, der Schwerelosigkeit, dann waren sie drüben. Als sie sich umdrehte, ließ ein schmaler Sichtspalt noch einen Blick zur  Wüste werfen und dort stand er und schaute ihnen betrübt nach. "Coder?" äußerte sie leise fragend ihre Vermutung, aber entweder hörte er sie nicht mehr oder er wollte nicht antworten. Dann schloss sich der Spalt und nun war auch in dieser Richtung nur Dschungel um sie.

Robyn seufzte. Dann schaute sie sich um. Am See war kein Vorbeikommen, doch am Rand lag ein kleines Boot, bereit zur Überfahrt. Zur anderen Seite, wo sie eben noch in die Wüste hatte schauen können, ließ sich ein schmaler Trampelpfad erkennen, der mitten in das grüne Dickicht führte. Sie selbst stand auf einem ausgetretenen Pfad, dessen Spur sich zur linken Seite im Gestrüpp verlor, zur rechten Seite jedoch bis in die nahen Hügel und hinauf mit bloßem Auge erkennen ließ.

"Wohin wollen wir gehen?" Sie wandte sich hilfesuchend an die winzige Elfe auf ihrer Schulter. "Sag du doch einmal was! Bitte, Milky!" 

Die fliederfarbenen Augen schauten sie traurig an. "Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich völlig nutzlos für dich bin", jammerte die Kleine plötzlich los. "Nie könnte ich so sein wie meine Mutter. Meine Mutter war eine Göttin unter den Elfen ! Ich bin ein Nichts ! Da helfen auch keine Sonnenblu..." Ihre Stimme versagte und verlief in eine herzzerreissendes Schluchzen. Robyn blickte sie verdattert an. Also das war die ganze Zeit mit ihr los gewesen! Binearas Erwähnung ihrer Mutter Sucharda hatte sie völlig aus dem Gleichgewicht gebracht! 

"Aber Milky!" Voller Mitleid barg sie die kleine lilafarbene Elfe in ihren Händen und knuddelte und herzte sie. "Ich wüsste doch gar nicht, was ich ohne dich anfangen sollte!" versicherte sie und sprach so lange ermutigend auf die Kleine ein, bis deren Tränen versiegten. Robyn nestelte an dem Beutel herum und förderte zwei Sonnenblumenkerne zu Tage, die sie Milky und Mork reichte. "Schau - ohne dich hätte ich ganz vergessen, dass ihr eure Kerne noch nicht gegessen habt! Nur dir verdanken wir nun, dass sich eure Zauberkraft weiter entwickelt!"

"Wiekliesch?" nuschelte Milky dankbar und bereits von ihrer Wichtigkeit überzeugt, während sie auf ihrem Kern kaute.

"Aber natürlich!" bestätigte Robyn so ernst sie konnte und fügte gleich hinzu: "Und - merkst du schon was? Hast du eine Idee, welchen Weg wir nehmen müssen?"

Die kleine Elfe ging sichtlich in sich, bis plötzlich ein Strahlen ihr Gesichtchen erhellte und sie rief: "Mork - wir müssen Mork die Witterung aufnehmen lassen!"

Das war natürlich das, was auch Binaera gesagt hatte, aber Robyn unterließ es, Milky darauf hinzuweisen, um ihre gute Laune nicht zu gefährden. "Klasse Idee!" lobte sie also und dann gab sie Mork die Entscheidung sozusagen in die Schnauze.

Der zottelige Briard schien zumindest verständiger geworden zu sein, seitdem er Sonnenblumenkerne fraß  - er begann sogleich den Boden zu beschnüffeln. Schließlich stellten sich seine Ohren ein wenig auf, ein tiefes Grollen rumorte in seiner Kehle und er sprintete bellend los, zu
 

dem Boot am See
dem Trampelpfad in den Dschungel
dem Weg in die Berge
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