Mystique Teil 1
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"Ach verflucht!" 

Robyn blickte resigniert den roten Rücklichtern des Busses nach, die gemächlich im dichten Schneegestöber verblassten bis die weiße Wand sie mit einem Haps von jetzt auf gleich verschluckte. 

"Na, das haben wir ja wieder einmal prima hinbekommen, nicht?" fragte sie und stellte die Einkaufstüte, die sie in den Armen trug sowie die vier, die ihr an den Handgelenken hingen, auf den Boden. Ihre Arme schmerzten und sie schwitzte in ihrem dicken Tweed-Wintermantel von dem kurzen Sprint, den sie vergebens hingelegt hatte. 

Mork, der erkannte, dass es erst einmal noch nicht weiter ging, setzte sich in den Schnee und schaute sie mit schiefgelegtem Kopf an. Sie strich ihm über den Kopf, legte dann erst seine Leine auf seinen Rücken und danach ihre Wollmütze ab und schüttelte ihre nassgeschwitzten roten Haare in die kalte Luft. Die dicken Schneeflocken würden sie noch nasser machen, aber sie brauchte eine Abkühlung. Der nächste Bus - der letzte eines Tages - begann seine nächtliche Runde erst in zwei Stunden und sie konnte unmöglich so lange warten. Die Tüten waren voller Weihnachtsgeschenke, die sie gleich hatte einpacken lassen. Wenn sie noch lange hier herum stand, würde alles nass werden und durchweichen und sie war eine solche Niete im Umgang mit Geschenkpapier und Schleifen - die Vorstellung, dass sie Zeit und Geld umsonst in die professionellen Fähigkeiten der Kaufhausangestellten investiert haben sollte, machte sie ganz kribbelig. 

Die Bushaltestelle lag ein Stück weit außerhalb des Einkaufszentrums. Es war zwecklos, umzukehren, um dort die nächsten Stunden zu verbringen; sie hatte sich so lange nicht von der Spielzeugabteilung trennen können, dass man sie, als man sie entdeckte, höflich, aber bestimmt darauf aufmerksam machte, dass sie die Ladenschlusszeit bereits um zwanzig Minuten überschritten hatte - der junge Verkäufer musste ihr die Ausgangstür aufschließen. Das Kaufhaus war längst leer, sie hatte es nicht bemerkt. Und natürlich auch die Zeit vergessen. Draußen war es dann schon dunkel gewesen und es schneite wie verrückt. Den Bus noch zu erwischen, wäre sowieso nur mit viel Glück möglich gewesen. Eigentlich hätte sie es sich denken können, dass sie es nicht schaffen würde, so bepackt wie sie war. Und jetzt hatte das Einkaufszentrum geschlossen. Und sonst war hier nichts. Sie hätte sich gleich ein Taxi bestellen sollen. Jetzt konnte sie nicht einmal mehr zurück, um zu fragen, ob sie telefonieren dürfe - die Angestellten waren mit Sicherheit so schnell es ging, nach Geschäftsschluss erschöpft nach Hause gefahren; an diesem letzten Samstag vor Weihnachten war das Kaufhaus ein Tollhaus gewesen - sowieso Anlaufstelle für alle Orte rundum in der Gegend, hatte sich heute die mindestens zehnfache Menge der Kunden hier konzentriert, um letzte Einkäufe zu machen. So wie sie.

Mork nieste und sie klopfte schuldbewusst sein dichtes Fell, das bereits von einer Schneeschicht überzogen war. "Armer Kerl, du wirst dich noch erkälten", sagte sie und erntete ein zustimmendes wehleidiges Blaffen, über das sie lachen musste, denn Mork war ein Briard, eine widerstandsfähige Hütehundrasse mit dickem Fell und außerdem sehr gut genährt, ihn griff so schnell nichts an. Was aber nicht ausschloss, dass er ein besonders sensibler Hund war, der sich sehr gerne bemitleiden und hätscheln ließ. Fast wie ein echter Mann. Und derzeit war er auch der einzige Mann in ihrem Leben. 

"Also gut, dann komm," sagte sie, setzte sich die Mütze auf den Kopf und lud sich die Einkauftaschen wieder auf die Arme. "Wenn wir schon hier draußen warten müssen, können wir genausogut eine Runde drehen. Vielleicht finden wir ja eine Telefonzelle oder doch noch einen Angestellten, der Überstunden macht." Sie glaubte zwar nicht recht daran, aber bevor sie sich der letzten Möglichkeit annahm - zu Fuß nach Hause zu laufen, was ungefähr eine halbe Stunde Marsch bedeutete, bei diesem Wetter vielleicht noch etwas länger - wollte sie es wenigstens geprüft haben.

Sie nahm Morks Leine und setzte sich in Bewegung, zurück in Richtung Einkaufszentrum. Doch sie konnte es nicht sehen. Eigentlich konnte man gar nichts mehr sehen außer der Straßenlaterne an der Haltestelle, in deren schwachen, aber tröstlichen Licht der volle Umfang des Schneegestöbers erst richtig sichtbar wurde. Der Wind war stärker geworden  und die immer größer und dichter wirkenden Schneeflocken fielen in rasender Geschwindigkeit schräg zu Boden. 

Robyn ging zögernd weiter in die Richtung, in der das Kaufhaus liegen musste. Die Dunkelheit hatte etwas Beunruhigendes an sich, und die durch den Schnee verdoppelte Stille nichts mehr, das sie mit weihnachtlicher Stimmung in Verbindung gebracht hätte. Innerlich verfluchte sie das Computerspiel, das sie in der Spielzeugabteilung so in Bann geschlagen hatte. Sie hatte gerade einen Furby gekauft, eines dieser sprechenden chipgesteuerten Computerstofftiere, um damit den sehnlichsten Weihnachtswunsch ihres Neffen Tommi zu erfüllen, und musste noch etwas warten, während das glupschäugige Pelztier in wundersamer Weise in festlich glitzerndem Glanzpapier verpackt wurde, als der  eingeschaltete Computer ihre Aufmerksamkeit erregte. Kaum hatte sie zwei, drei Mouseclicks ausgeführt, war sie mitten in einen faszinierenden Mix aus Fantasy, Science Fiction und Cyberkrimi geraten, der sie binnen Sekunden von ihrer Außenwelt abschnitt. Sie war so völlig abgetaucht, dass sie nichts mehr um sich herum wahrgenommen hatte und als der junge Verkäufer sie gerade noch rechtzeitig entdeckte, bevor sie eingeschlossen worden wäre, war ihr die Situation so peinlich, dass sie nicht einmal mehr nachgeschaut oder gefragt hatte, wie der Name des Spiels war. Allerdings hatte sie fest vor, dies nachzuholen. Jetzt allerdings musste sie erst einmal nach Hause gelangen, irgendwie.

Mork neben ihr bog so plötzlich abrupt nach rechts ab und rannte los, dass er ihr den Arm mitriss und sie fast gefallen wäre. Im Bemühen, dies zu verhindern und dabei auch noch die Tüten festzuhalten, konnte sie nur seinen Namen brüllen, in der Hoffnung ihn irgendwie aufzuhalten und stolperte hinter ihm her, bis er nach wenigen Schritten zum Glück stehen blieb. Er drehte sich zu ihr, hechelte und wedelte mit dem Schwanz, als wollte er "schau nur, was ich gefunden habe!" sagen. Robyn versuchte, das Schneewirbeln vor ihm zu durchdringen und sah tatsächlich etwas. Das nebelartige Glimmen einer kleinen Lampe und in ihrem schwachen Schein blasse Andeutungen von Glas und pinken und grauen Farbschatten. Mork hatte tatsächlich etwas gefunden - eine Telefonzelle!

"Wow!" dampfte sie ihren Atem in die Kälte. Sie war wirklich überrascht. "Guter Junge. Gut gemacht!" Sie stellte die Tüten ab, wobei sie vermied, deren aktuellen Zustand zur Kenntnis zu nehmen und wühlte in ihren Manteltaschen nach ihrer Geldbörse. Wenn ich jetzt kein Kleingeld habe, drehe ich durch, dachte sie. Aber es waren genügend Markstücke vorhanden, um ein Taxi zu rufen. Robyn zog die Schwingtür auf und bugsierte  Mork mit sich in die Zelle. Mit dem großen Hund an ihrer Seite hatte sie kaum Platz, aber sie brauchte ja auch nur den Telefonhörer, die Nummer des hiesigen Taxiunternehmens kannte sie auswendig. Sie warf ein Markstück ein und wählte. Das Besetztzeichen trötete in ihr Ohr. Sie seufzte, kappte die Verbindung und versuchte es erneut. Während sie wartete, starrte sie durch die Fenster in die Dunkelheit. Beim siebten Versuch erhielt sie endlich ein Freizeichen. Erleichtert senkte sich ihre freie Hand in Morks Fell und kraulte ihn hinter den Ohren.

"Grün und Blau schmückt die Frau
schmückt nicht die Sau
schmückt nicht den Bau, ist nicht Grau
ist Grün und Blau
schau Frau, Grün oder Blau?"

"Wie bitte?" Robyn starrte konsterniert auf den Hörer in ihrer Hand und war sicher, sich verhört zu haben. "Ist dort das Taxiunternehmen Kerner?"

"Wähle Frau, Grün oder Blau?"

Es war eine männliche Stimme, stoid knarrend, ohne Höhen und Tiefen. Robyn wurde auf der Stelle ärgerlich.

"Hören Sie, ich habe keine Zeit für Scherze. Ich brauche dringend ein Taxi, wenn ich die falsche Nummer gewählt haben sollte, so entschuldigen Sie bitte! Auf Wiederhören." Sie legte auf und wählte erneut. Die Nummer stimmte, sie war sich ganz sicher.

"Lau ist der Tau
Grau ist der GAU
wähle Frau, 
Grün oder Blau?"

"Verdammt!" Robyn legte sofort auf und nestelte fluchend nach dem Telefonbuch. Sie schlug unter T nach und vergewisserte sich, dass die Nummer die richtige war. Es war die, die sie gewählt hatte. Außer dieser gab es keine. Es gab auch kein anderes Taxiunternehmen. So war es nun mal in dieser Gegend. Ein einziges großes Einkaufszentrum, ein einziges großes Taxiunternehmen. Rundherum nur kleine Dörfer. Ihr war kalt, sie war müde und sie wollte diese ekelhafte Stimme nicht noch einmal hören. Und zurück durch die Dunkelheit zur Bushaltestelle wollte sie auch nicht. Hier war es wenigstens etwas hell und windgeschützt. Kurzentschlossen wählte sie die Nummer von Hannah, ihrer besten Freundin. Hannah musste sie eben abholen. 

Mork stupste sie mit der Nase an, beunruhigt von der gereizten Schwingung die er an ihr witterte. Sie streichelte ihn beruhigend, während sie wartete, dass Hannah den Hörer abnahm. Sie blickte auf die Uhr. Halb 10. Hoffentlich schlief Hannah nicht bereits. Der Hörer wurde abgenommen. Und in der Stimme lag ein böses Kichern, als sie losknarrte:
"Grün oder Blau, 
Grün oder Blau, 
Grün oder Blau, 
sag schon Frau".

Robyn fühlte, wie eisige Schauer über ihren Rücken rasten und ein dumpfes Pochen ihre Schläfen zu maltretieren begann. Ihr wurde schwindelig. Sie ließ den Hörer fallen und drehte sich taumelnd zur Tür. Doch statt einer Tür sah sie vor sich einen langen steinernen Gang. Fassunglos drehte sie sich um ihre eigene Achse. Die Telefonzelle war verschwunden. Statt ihrer ragten steinerne Wände an allen drei Seiten auf, eine einsame Glühbirne verbreitete kaltes Licht von der Decke. Der Raum, in dem sie sich befand, war leer. Bis auf sie, Mork und den Gang vor ihr. Von Entsetzen gepackt, zerrte sie an Morks Leine und rannte in den Gang. Doch der war nach wenigen Schritten zu Ende. Und an seinem Ende erwarteten sie zwei Türen. Die eine ganz in Grün gestrichen, die andere in Blau. Jede hatte ein im gleichen Farbton seltsam leuchtende Klinke. 
Robyn schaute gehetzt über ihre Schulter und sah nur noch tiefe blicklose Schwärze - der Gang, der Raum mit der Glühbirne - nicht mehr vorhanden. Und sie hatte das entsetzliche Gefühl, dass sie jeden Moment etwas aus der Dunkelheit anspringen würde. Dorthin zurück konnte sie nicht. Sie konnte nur vorwärts. Durch eine der Türen. Sie sind nicht verschlossen, dachte sie. Wusste sie.

In diesem Moment begann Mork in einem solch zutiefst ängstlichen Ton zu winseln, dass es Robyn durch Mark und Bein schnitt. Von Panik fast übermannt entschied sie sich und drückte die Klinke der
 

grünen
blauen
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