"Zu
spaet“, droehnten die Flugzeugmotoren unaufhoerlich.
"Ja - zu spaet" lachte schrill die gleissende Sonne. "Zu spaet, zu spaet!!" schrie das staehlerne kalte Blau des Himmels. Zu spaet, dachte ich, kauerte mich unwillkuerlich tiefer in meinen Sitz und drueckte das Paeckchen froestelnd an mich. Sieben Stunden und elf Tage war er jetzt tot. Acht Stunden und elf Tage - wuerde er dann noch leben? Sechs Stunden und elf Tage - waere der Lastwagen dann schon weg gewesen? Der alte Lastwagen, schon lange reif fuer sein Gnadenbrot, der auf der rechten Autobahnspur liegengeblieben war und auf den sie mit voller Geschwindigkeit aufprallten, als sie nachts von einem Auftritt zurueckkehrten - er und der Bassist der Band. Wie schnell stirbt man, wenn man in einem VW Golf mit hundertvierzig Sachen unter einen LKW geschoben und zerquetscht wird? War noch Zeit gewesen, um O Scheisse zu bruellen oder auch nur O Gott zu denken? Angeblich waren sie sofort tot gewesen - Genickbruch. Die uebliche Diagnose, um das Leid der Angehoerigen zu schmaelern. Meist verfehlt sie ihren Zweck auch nicht - so lange man daran denkt, zu vergessen, dass man nicht daran glaubt. Der Schlagzeuger hatte Glueck. Er war mit seinem eigenen Auto gefahren und schon zu Hause, als der Unfall passierte. Draussen schwebte geraeuschlos wattig eine kleine Gruppe weisser Schaefchenwolken. "Zu spaet..." fluesterten sie mir durch das Fenster zu, als wir vorbeiflogen. Ich weinte keineswegs, als ich es erfuhr. Ich glaubte es nicht. Ich hasste ihn. Einfach wegzusterben, war die gemeinste Art von allen, sich geschickt aus der Affaire zu ziehen. Ich konnte jetzt zusehen, wie ich mit all meinen Schuldgefuehlen zurechtkam und zusaetzlich mit der Ungewissheit, ob er mich noch geliebt hatte, als er starb. Kein Mensch wuerde mir diese Frage je beantworten koennen - da er so verschlossen war (selbst mir war nur die Bekanntschaft mit der Spitze seines Eisbergs vergönnt gewesen), hatte wahrscheinlich noch nicht einmal jemand gewusst, dass es aus war mit uns. Ich ging nicht zur Beerdigung. Ich hasste ihn. Als sie ihn und seinen Freund den Wuermern, Kaefern und allem anderen Getier des Erdreichs zum Festmahl ueberreichten, zog ich in meiner Wohnung die nagelneue schwarzrote Reizwaesche mit den dazu gehoerigen Strapsen an (bei der erhofften Versoehnung hatte ich ihn damit ueberraschen wollen), oeffnete eine ebenso (und aus demselben Grund) nagelneue Flasche Gin, legte Shriekback in den CD-Player und stellte einen Song auf Endloswiederholung. Unter ohrenbetaeubender Lautstärke tanzte, sang und betrank ich mich bis zur Besinnungslosigkeit...everybody happy as the dead come home... Ewiges Besetztzeichen am Telefon - ich hatte den Hoerer neben die Gabel gelegt - machte schliesslich einige Freunde nervoes. Unter Zuhilfenahme eines bei meinen Eltern deponierten Ersatzschluessels gelangten sie am naechsten Abend in meine Wohnung. Fuer meinen Vater muss es ein entsetzlicher Anblick gewesen sein: alle Waende boten sich in neuem Outfit dar - allerschoenste blutrote Bemalung in perfekter Grafitti-Manier. Dazu spielte immer noch unermuedlich der CD-Player und mich fanden sie in der Badewanne - bis zum Hals in scheinbar blutgetraenktem Wasser versunken. Selbst als sich herausstellte, dass die rote Farbe an den Waenden aus einer Hobbylack-Spruehdose stammte und die im Badezimmer aus einer Tube Toenungslotion - ich schien versucht zu haben, mir die Haare rot zu faerben - liess sich mein Vater nicht mehr beruhigen. Er verordnete mir Zwangsurlaub und ich entschied mich fuer die suedfranzoesische Kueste. Am Tag vor der Abreise besuchte ich Roberts Mutter. Auf ihre Frage, warum ich nicht zur Beerdigung gekommen sei, brachte ich nur ein „Ich konnte einfach nicht“ heraus und sie nickte und fragte nicht weiter. Sie liess mich hinauf in sein Zimmer gehen und kochte in der Zwischenzeit Kaffee fuer uns. Der Raum war unveraendert unordentlich wie immer, so als waere Rob nur kurz hinausgegangen, um gleich zurueckzukehren, den Fernseher einzuschalten und sich mit mir auf sein Bett zu setzen. Auf die grosse schwarze Futon-Matratze, Staette unendlich vieler leidenschaftlicher Naechte in seinen Armen. Nie wieder... Eigentlich hatte ich mich intensiv umschauen wollen nach etwas, das mir zeigen sollte, dass er an mich gedacht und mich vermisst hatte, aber ich ertrug den Anblick der trotz der Anwesenheit des Todes so lebendig wirkenden Gegenstaende nicht. So machte ich kehrt. Auch
seine Mutter konnte mir nicht weiterhelfen. Sie wusste nur, dass er seit
unserer Trennung viel zu Hause gewesen war und waehrend dieser Zeit nirgendwo
anders zu uebernachten schien. Gesprochen ueber mich hatte er nicht zu
ihr.
Als ich
ging, drueckte sie mir ein weiches braunes Paeckchen, mit Paketschnur umwickelt,
in die Hand.
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