Mystique Teil 9c
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Man hörte Binaera erleichtert aufatmen, dann wurde der Paravant zur Seite geschoben und sie trat heran. Eigentlich war es eher als ein Schweben zu bezeichnen, denn es waren keine Füße zu erkennen und die Königin des Digital glitt zwei Handbreit über dem Boden in der Luft daher. Sie war eine außergewöhnliche Erscheinung. So außergewöhnlich, dass Mork den Schwanz einkniff und winselnd auf dem Boden rückwärts rutschte. So außergewöhnlich, dass Robyn all ihren mentalen Willen zusammen nehmen musste, um es ihm nicht gleich zu tun. Nur Milka flatterte fröhlich auf die Königin zu und ließ sich auf der Hand nieder, die ihr freundlich entgegengestreckt wurde.

Binaera war nichts, was der Beschreibung eines menschlichen Wesens nahe gekommen wäre. Nur der fluoreszierende Rahmen ihrer Gestalt deutete an, wo sich ihr Kopf, ihr Körper, ihre Gliedmaßen befanden. Darin eingeschlossen war ein leuchtendes Plasma aus orange und grün blinkenden Ziffern und Symbolen. Robyn fühlte sich unvermittelt an den Cyberthriller "The Matrix" erinnert, den sie erst kürzlich im Kino gesehen hatte. Eine fast durchsichtige weiß umrahmte Masse digitaler Zeichen floss von Binearas Kopf über ihre Schultern bis fast auf den Boden - eine Art Haarschmuck. Trotzdem war die Erscheinung von unbeschreiblicher atemberaubender Schönheit, die jetzt ihre Augen auf Robyn richtete. Die Andeutung eines Gesichtes wurde durch Farben ermöglicht - zwei blaue @-Zeichen im oberen Drittel strahlten über einer in gelber Farbe zart angedeuteter #-Mitte, darunter zogen sich mehrere aneinander gereihte dunkelrote ~~~ zu einem Lächeln auseinander, als sie zu sprechen begann.

"Habt keine Angst", sagte sie. "Ich bin nur halb so schrecklich, wie ich aussehe". Worauf ihr diese eigenen Worte ein Kichern entlockten. 

Das ließ Robyn entrüstet auffahren. "Aber ihr seht doch nicht schrecklich aus. Anders, ja, aber traumhaft schön!"

"Das findest du tatsächlich?" Binaera wirkte überrascht. "Und ich dachte immer, nur Coder wäre zu dieser ungewöhnliche Geschmacksentgleisung fähig."

"Er ist gar nicht wie du?" fragte Robyn neugierig. Mork traute sich nun auch wieder heran, nachdem er die Stimme mit der wandelnden Leuchtreklame unter einen Hut bringen konnte.

"Nein", erwiderte Binaera. "Eigentlich ist er so wie du. Menschlich."

"Und Rikkor?"

"Ganz wie sein Vater", lachte Binaera. "Kein Sorge." Sie zwinkerte Robyn verschwörerisch zu. "Er wird dir gefallen, da bin ich sicher. Nun aber zur Sache. Zuerst einmal dies." Sie wirbelte mit ihren Händen ein paar Bewegungen in die Luft, die wie Laserschwerte aus Star Wars gleißende Farbstriche hinterließen und hielt schließlich einen Leinenbeutel in der Hand, den sie Robyn reichte. "Hier", sagte sie. "Dies wird Milka und Mork die Zauberkraft verleihen, von der ich sprach. Du musst darauf achten, dass sie jeden Tag eine nehmen. Am besten beginnt ihr gleich!"

Robyn nestelte die Lederriemen auseinander, die den Beutel verschlossen und langte hinein. Heraus zog sie eine Handvoll - Sonnenblumenkerne. Zweifelnd schaute sie von ihnen zur fluoreszierenden Königin, aber diese nickte ermutigend. 

"Sie stammen von den sprechenden Sonnenblumen, vertraue mir!"

Sprechende Sonnenblumen? Eine vage Erinnerung klopfte in Robyns Kopf kurz an, verflüchtigte sich aber wieder, bevor sie sie greifen konnte. Sie reichte Mork und Milka je eine und schaute gespannt zu, wie beide sie aßen. Den Rest gab sie in den Beutel zurück, band ihn zu und hängte ihn sich um die Schulter.

"Erwartet nicht zu viel. Und nicht zu schnell", mahnte Binaera. "Achtet nur auf die regelmäßige Einnahme. Alles weitere ergibt sich von selbst."

"Und was sollen wir nun tun?" fragte Robyn unschlüssig.

"Als allererstes müsst ihr den Drachen ausfindig machen, der Rikkor gefangen hält", erklärte Binaera. "Doch das wird nicht einfach sein. Es ist anzunehmen, dass Setagllib bereits Kenntnis vom Vorgefallen erhalten hat und versuchen wird, die Spuren des Drachen zu verwischen. Doch ihr habt einen Hund! Komm zu mir Mork!" 

Der Briard tapste gehorsam zu ihr, die plötzlich einen Fetzen in der Hand hielt und seiner Nase entgegenstreckte. "Dies ist ein Stück der Haut des Drachen, der Rikkor entführt hat. Die Freunde meines Sohnes haben sie im Kampf erbeuten können. Mork wird die Witterung aufnehmen und euch führen."

Der Hund schnupperte eingehend an dem Fetzen Haut herum, während seine Nackenhaare sich aufstellten und ein tiefes Grollen aus seiner Kehle aufstieg. Bevor er sich auf den Fetzen stürzen konnte, entfernte ihn Binaera. "Das ist genug. Nun nehmt diese Treppe" - hinter dem Paravant versteckt, erblickte Robyn nun eine weitere, nach unten führende Wendeltreppe - "sie führt in einen unterirdischen Gang. Geht ihn entlang und ihr kommt hinter dem Burggraben, der Siliconia umgibt, in der Wüste des Digitals heraus. Dort wird ein Freund auf euch warten, der euch zu der Stelle führt, an der Rikkor und seine Freunde in den Drachenhinterhalt geraten sind. Dort lasst Mork die Spur aufnehmen."

Sie trat mit wenigen gleitenden Bewegungen auf Robyn zu und schloss sie in die Arme. "Viel Glück, meine zukünftige Schwiegertochter", sprach sie und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. "Nun geht! Und nehmt euch in acht vor den Tricks von Setagllib und seinen Mannen. Lasst euch nicht vom Wege abbringen!"

Robyn, Milka und Mork verabschiedeten sich von der Königin und begaben sich die Wendeltreppe hinunter in den unterirdischen Gang, der durch an der Wand entlang aufgereihte Fackeln genügend hell war, um zu sehen, wohin man trat. 

Nach fast einer Stunde strammen Marsches gabelte sich der Gang plötzlich. Es gab keinen Hinweis auf den richtigen Weg und Robyn wunderte sich, dass Binaera es versäumt haben sollte, sie auf diese Möglichkeit aufmerksam zu machen. Ihr fiel nur ein Ausweg ein. Mork. Sie rief den Hund an ihre Seite und sprach auf ihn ein: "Welcher Weg ist der richtige, Mork? Wo geht es zu dem Drachen? Such den Weg, such!"

Mork legte den Kopf schief, schaute von ihr zu den Gängen und zurück, bellte ein aufforderndes "Ohk!" und rannte ohne zu zögern voraus in den 
 

nach links abzweigenden Gang nach rechts abzweigenden Gang
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