Zwitschernde Vögel, betörender Blütenduft, dazu eine laue Brise, die meine Haut streichelte – nur drei meiner Sinne wurden tangiert und doch fühlte ich mich wie in einem Drogenrausch. Ich gönnte mir ein paar Sekunden, sog tief den Frühling in meine Lungen und schmeckte die klare Luft, bevor ich erst meine Augen und dann das hölzerne Gartentor öffnete. Noch bevor ich die Haustür erreichte, flog diese auf und eine schlanke Brünette in meine Arme. Trotz schneeweißer Strähne im Haar und zahlreichen Lachfältchen um die erfreut strahlenden Augen sah man meiner Mutter ihr wahres Alter kein bisschen an.
»Schatz! Wie schön! Ich habe dich erst Sonntag erwartet!«
»Hey, Mum! Ich dachte, ich niste mich übers Wochenende ein und helfe bei den Vorbereitungen. Wenn es dir recht ist?«
»Da fragst du noch? Ich freue mich! Gerade wollte ich einen Happen essen. Hattest du schon was zu Mittag?«
Mein Verneinen führte uns in die Küche, wo Mum: »Terrasse okay?« fragte, während sie das vorbereitete Tablett um ein zweites Gedeck erweiterte.
»Aber so was von!«, erwiderte ich begeistert, stellte meine Aktentasche zu Boden, rief: »Ich ziehe mich schnell um!« und eilte hinauf in mein ehemaliges Jugendzimmer, das meine Mutter bis auf den Inhalt des Kleiderschranks unverändert belassen hatte. Ich tauschte Anzug gegen Jeans und T-Shirt und wurde bei meiner Rückkehr mit einem stirngerunzelten Seitenblick zur Tasche empfangen: »Hast du nicht etwas vergessen?«
Mit wichtiger Miene hängte ich sie mir wieder um und tätschelte das Leder. »Habe ich nicht«, verneinte ich geheimnisvoll, ergriff das Tablett und trug es nach draußen, gefolgt von Mum und ihrem neugierigen Lachen.
Im sonnendurchfluteten Garten tanzten Bienen und Schmetterlinge in einem Meer blühender Frühlingsblumen. Der schmerzlich vermisste, ach so wunderbare Anblick erfüllte mich mit Freude und Wehmut gleichermaßen.
Während wir aßen, ließ sich Mum durch meine Fragen noch ablenken. Sie erzählte von Neuigkeiten aus der Nachbarschaft und von den Gästen, die sie am Sonntag erwartete. Ihr Mund stand kaum still, aber das machte mir nichts aus. Ich betrachtete ihr Gesicht, versuchte mir jede Linie einzuprägen und wusste doch, dass ich die Erinnerung nicht hundertprozentig würde bewahren können. Wehmut auch hier und Liebe, so viel Liebe.
Dass ich ihr irgendwann nicht mehr zugehört hatte, merkte ich erst, als sie mich mit Namen ansprach.
»Paul? Alles in Ordnung?«
»Sorry, war kurz mit meinen Gedanken woanders. Was sagtest du?«
»Ich sagte, wie froh und dankbar wir sein können, dass es der Menschheit doch noch gelungen ist, die Klimakatastrophe abzuwenden.« Mit ausladender Geste umfasste sie Himmel, Erde und den herrlichen Garten. »Wäre es nicht eine Schande, wenn wir auf all dies hier verzichten müssten?«
Ich nickte eine Spur zu übertrieben. »Das wäre es allerdings!«
Jetzt stahl sich ein schelmisches Lächeln der Art ›Ich-höre-ja-schon-auf-zu-plappern‹ in ihre blauen Augen, mit ein paar Handgriffen war das Geschirr auf das Tablett geräumt und mein Hilfsangebot mit: »Bleib sitzen und entspann dich!« abgelehnt. Mum lief in die Küche und kam nach einigen Minuten mit Kanne und Tassen zurück, umhüllt vom Duft nach frisch gebrühtem Kaffee.
Ich schenkte uns beiden ein, lobte erst das Essen und dann ihren für mich wie immer ›best-coffee-ever‹, zündete mir eine Zigarette an, nahm einen genießerischen ersten Zug und begegnete ihrem Blick, in dem ganz kurz die Missbilligung aufblitzte. Doch als sie den Mund öffnete, ging es nicht ums Rauchen.
»Jetzt mal raus mit der Sprache«, forderte sie in amüsiertem Tonfall. »Was hast du mitgebracht?«
Erneut setzte ich meinen immens wichtigen Gesichtsausdruck auf und öffnete langsam den Verschluss der Aktentasche. Mums Augen weiteten sich ungläubig, als sie das CyberCare-Logo auf dem Papierstapel erkannte, den ich nun hervorzog. »Bedeutet das etwa …?«
»Genau das!«
Mum griff meine Hand und drückte sie. »Schatz, das ist ja wunderbar. Ich gratuliere dir, ich bin so stolz auf dich!«
»Da ist noch mehr«, sagte ich und zeigte ihr das nächste Blatt, auf dem ihr Name stand. Sie verstand sofort, was das bedeutete.
»Sie nehmen mich? Du meine Güte«, hauchte sie in ehrfürchtigem Ton, dann überzog aufgeregte Röte ihre Wangen und sie klatschte die Hände zusammen, in kindlicher Freude. Rückte ihren Stuhl an meine Seite, um die Dokumente besser sehen zu können, hakte sich bei mir unter und bat eifrig: »Erzähl mir alles!«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen – nachdem die Genehmigung beschlossen war, hat das Gremium sofort die Bewerbungen gesichtet und dich mit ausgewählt.«
»Ist es bei der Kostenübernahme geblieben?«
Ich nickte. »Lebenslang und darüber hinaus. Gewissermaßen.« Eine Einäscherung nach dem Tod war inbegriffen, das wusste sie. »So belassen es hoffentlich später auch die Krankenkassen, wenn die Studie erfolgreich war und die Pflegestufe erst mal Standard geworden ist. Andernfalls werde ich dafür sorgen!«
»Die größte, die es jemals gab! Pflegestufe ›XXL‹!«, sagte sie verschmitzt lächelnd, wohl wissend, dass ich sie immer korrigierte, wenn sie meine Erfindung so nannte.
Ich enttäuschte sie nicht. »Nicht XXL, sondern VR – virtuelle Realität!«
Mum lachte und ich küsste liebevoll ihre Stirn.
»Sind noch mehr wie ich unter den Probanden?«, fragte sie.
»Ja«, bestätigte ich. »Alzheimer-Diagnosen in sowohl so frühen Stadien wie bei dir als auch fortgeschrittenen. Dazu Krebs, Hirntumore, Schlaganfälle und mehr. Besonderes Augenmerk immer auf einer zu erwartenden schwersten Beeinträchtigung der Selbstständigkeit.«
»Und des Erinnerungsvermögens …«, fügte sie leise hinzu.
Ich legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie an mich. »Wovon du nichts bemerken wirst«, sagte ich beruhigend. »Es wird funktionieren, ganz bestimmt! Vertraust du mir?«
»Aber natürlich, Schatz.« Ihre Worte wirkten selbsthypnotisch, sie straffte den Rücken und deutete entschlossen auf die Unterlagen. »Jetzt füllen wir die Formulare aus?«
Ich nickte. »Und wenn wir die bis morgen Mittag einreichen, bekommst du deine Bestätigung pünktlich zum Geburtstag!«
»Also das sind die Vorbereitungen, bei denen du mir helfen willst?«
Mein schuldbewusster Gesichtsausdruck brachte sie zum Lachen. »Schon gut, es ist ja fast nichts mehr zu tun. Ich habe bei Partytime bestellt!«
Beim Eventservice also, der sich um alles kümmerte, inklusive Catering. Gespielt erleichtert tat ich so, als wische ich mir Schweiß von der Stirn, was Mum einmal mehr kichern ließ.
»Übrigens, stell dir vor, ich habe geträumt, deine Schwester wäre bei einem Unfall ums Leben gekommen! Bestimmt, weil ich sie seit Mittwoch nicht erreichen kann. Sie wollte mir noch Bescheid geben, ob sie ihre neue Eroberung mitbringt. Hast du etwas von ihr gehört?«
Mein Erschrecken konnte ich hinter erstauntem Auflachen verbergen, leichthin sagte ich: »Dummerchen, sie ist doch bloß im Prüfungsstress! Vorgestern rief sie mich kurz an, Probleme mit dem Computer. Aber ihre neue Flamme kommt mit, das hat sie mir schon erzählt.« Auf Mums neugierigen Blick hin hob ich abwehrend die Hände. »Frag nicht, mehr weiß ich auch nicht. Nicht mal einen Namen. Lassen wir uns überraschen.«
Meine Mutter verdrehte nur vielsagend die Augen, dann wandten wir uns dem umfangreichen Fragebogen zu. Ich entschuldigte mich für die noch eingeschränkten Wahlmöglichkeiten, aber es machte ihr nichts aus, auf Gewohntes zurückzugreifen, ganz im Gegenteil.
»Ich habe es doch so schön hier«, bemerkte sie beispielsweise, als es darum ging, die Umgebung auszusuchen. »Warum würde ich woanders leben wollen? Hier war ich mit deinem Vater glücklich, dies ist mein Zuhause. Kann ich denn auch meine Nachbarn behalten?«
»Etwa die Schwatztanten zu beiden Seiten und den alten Nörgler gegenüber?«, fragte ich lachend.
Mum schmunzelte. »Genau die. Ich würde sie vermissen, glaube ich. Also ist es möglich? Mit dieser Avatar-Methode?«
»Aber ja«, erwiderte ich und trug die Namen ein, die sie mir nannte. »Ich kümmere mich darum.«
Wir benötigten mehrere Stunden, doch meine Mutter zeigte keine Anzeichen von Ermüdung. Sie war mit Feuereifer dabei, ihre zukünftige Welt zu erschaffen. Ich förderte ihre Begeisterung, beantwortete Fragen, half ihr bei Entscheidungen, und weil ich diese schon kannte, musste ich nur so tun, als konzentrierte ich mich und konnte hinter meiner Maske ein stiller Beobachter sein, der das Zusammensein mit einem geliebten Menschen ein letztes Mal und voller Dankbarkeit auskostet.
»Schildere mir noch einmal den Ablauf«, bat sie, als wir fast durch waren und sie nun diverse Einverständniserklärungen unterschreiben musste.
»Los geht es – noch heute! – mit täglichen Medikamenten, die deinen Körper vorbereiten werden. In einer Woche folgen die Spritzen mit den Pikobots und Naniten, die es sich in deinem Kopf gemütlich machen. Manche Sorten speichern deine alten und aktuellen Erinnerungen, andere Arten tragen all die Informationen und Techniken bei sich, die künftig benötigt werden. Davon spürst du allerdings überhaupt nichts. Wenn es dann … so weit ist und alle Vorbereitungen getroffen sind, aktivieren wir unsere kleinen Roboterfreunde und sie nehmen ihre Arbeit auf.«
»Zu diesem Zeitpunkt befinde ich mich dann schon im haptischen Tank, nicht wahr?«
Ich nickte. »Schwerelos und frei beweglich schwebst du im H-Fluid wie ein Fisch im Wasser. Deine Körperfunktionen werden überwacht und dein Stoffwechsel mit allem Nötigen versorgt. Die Bots in deinem Körper kommunizieren mit der haptischen Substanz und gemeinsam sorgen sie dafür, dass du dein von nun an virtuelles Leben so sehr mit allen Sinnen wahrnimmst, dass du es nicht von der Realität unterscheiden kannst.«
Neben mir versteifte sich ihr Körper, beinahe unmerklich, aber ich schenkte ihr sofort einen auffordernden Blick. »Wenn du irgendwelche Bedenken hast, raus damit!«
»Dir entgeht auch nichts, was?« Lächelnd drückte sie meinen Arm. »Ich habe keine Bedenken wegen der Prozedur an sich, ich bin nur unschlüssig, ob ich wirklich nicht über meinen Zustand Bescheid wissen will.«
»Es ist allein dein Recht, darüber zu entscheiden und diesen Punkt kannst du jederzeit noch ändern. Sobald du uns das ›Go‹ gibst, sorgen wir dafür, dass du deine ›aktive Beteiligung‹ an der Studie vergisst. Doch dazu besteht keine Verpflichtung. Wenn du dich niemals dazu entschließt, wird es auch niemals passieren.«
»Aber du rechnest in diesem Fall mit Problemen, seelischer Art.« Das war eine Feststellung, keine Frage.
Ich hatte es ihr schon früher erklärt und machte ihr auch jetzt nichts vor. »Wir wissen nicht, wie deine Psyche die Wahrheit verkraften wird«, bestätigte ich. »Das gilt für alle Probanden, aber bei Alzheimer ist das Risiko nochmals erhöht. Mentale Belastungen könnten sich in vielfältiger Weise auf die Gesundheit auswirken. Trotzdem darfst du dich davon nicht beeinflussen lassen. So oder so werde ich immer da sein und ein Auge auf dich haben. Ich kann – wenn du das möchtest – die Entscheidung für dich fällen, sobald ich den Zeitpunkt für gekommen halte.«
Ich würde das Wissen wählen, dachte ich. Damit ich erfahre, was in der realen Welt passiert und wie es mit der Menschheit weitergeht. Aber ich sprach diesen Gedanken nicht aus.
Mum zögerte nur kurz, dann sagte sie entschieden: »Nein, ist schon gut. Wir belassen es so, wie es ist.«
Ich legte einen Arm um sie. »Sicher?«
»Sicher!« Sie schenkte mir ein tapferes Lächeln. »Besuche sind ja ziemlich umständlich, ich hoffe, das wird dich und deine Schwester nicht abhalten –«
»Umständlich?«, fiel ich ihr gespielt entrüstet ins Wort. »Das wird so was von entspannt! Wir schlüpfen in unsere VR-Anzüge und werden weich gebettet in dein Metaversum eingeloggt. Während wir auf Liegen chillen, strampelst du dich in deinem Tank ab. Zum Glück ist das Glas blickdicht!«
Lachend boxte sie gegen meine Schulter, griff sich den Kugelschreiber und setzte entschlossen ihre abschließenden Unterschriften auf die Papiere.
Daraufhin zog ich ein kleines Tablettenröhrchen aus meiner Aktentasche, öffnete es und überreichte meiner Mutter feierlich ihre erste vorbereitende Kapsel, die sie ebenso feierlich mit einem Schluck Kaffee hinunterspülte.
Ich wedelte mit dem Zeigefinger. »Die nächsten nimmst du aber bitte mit einem Glas Wasser!«
»Zu Befehl!«
Wir lachten beide, dann umarmten wir einander fest.
»Vielen Dank«, flüsterte Mum.
»Ich habe zu danken«, gab ich augenzwinkernd zurück. »Diese Studie dient ganz und gar egoistischen Zwecken!«
»Aber nicht nur deinen«, widersprach sie. »Du wirst mit deiner Erfindung nicht nur mich, sondern noch viele andere glücklich machen, Pflegebedürftige und Angehörige gleichermaßen!«
Die Zeit bis zum Abendessen vertrieben wir uns mit angeregten Gesprächen auf einem ausgedehnten Spaziergang durch den Ort, den nahen kleinen Mischwald und die angrenzenden Rapsfelder. Überall entfaltete der Frühling seine Pracht. Von der frischen Luft konnte ich gar nicht genug bekommen, so dass ich sogar das Rauchen sein ließ.
Wir sprachen viel von meinem Vater, der früh durch die Folgen eines Schlaganfalls von uns gegangen war und spekulierten darüber, was er wohl zu meiner Erfindung gesagt hätte. Mum bedauerte, dass er meinen Erfolg weder erlebt hatte noch in dessen Genuss gekommen war, sein langes Dahinsiechen hätte sich in ein friedvolles virtuelles Leben ändern lassen können. Wir beide wussten, dass auch diese Erfahrung zu meiner beruflichen Motivation beigetragen hatte.
Ich diskutierte mit ihr die Möglichkeit, meinen Vater als Avatar in die VR zu integrieren, mit dem sie zusammenleben würde, ohne sich an seinen Tod zu erinnern. Aber so verlockend sie die Vorstellung auch fand, letztendlich lehnte sie ab, weil sie nicht sicher war, ob mein Vater dieser Art von ›Wiederbelebung‹ zugestimmt hätte. Ich musste ihr versprechen, die Idee nicht weiterzuverfolgen, erst recht nicht, wenn sie irgendwann nicht mehr ›bei Sinnen‹ wäre.
Am Abend aß sie nur eine Kleinigkeit und zog sich früh zurück, der Tag habe sie doch mehr erschöpft als gedacht, meinte sie, sie fühle sich sehr müde.
»Liegt auch am neuen Medikament«, erklärte ich ihr, als sie mir eine gute Nacht wünschte und sich zum Schlafen verabschiedete.
»Lass einfach alles stehen, ich kümmere mich morgen darum«, sagte sie mit Blick auf den gedeckten Küchentisch, aber ich winkte ab, zog sie spontan in meine Arme und drückte sie fest an mich, die wohlige, an meine Kindheit erinnernde Weichheit und Wärme ihres Körpers bewusst wahrnehmend. »Ich mache das schon. Schlaf gut und träum was Schönes! Hab dich sehr lieb, Mum.«
Wenn ihr meine Rührseligkeit seltsam vorkam, so ließ sie es sich nicht anmerken. »Ich liebe dich auch, Schatz. Du hast mir das schönste Geburtstagsgeschenk gemacht, mir einen großen Traum erfüllt, ich hoffe, das weißt du. Wir sehen uns zum Frühstück!« Sie winkte mir noch einmal lächelnd und stieg dann die Treppe hinauf, zu weit entfernt schon, um die Tränen in meinen Augen zu bemerken, die meinen Blick verschleierten.
Die eine Stunde, die ich abwarten musste, saß ich bewegungslos am Tisch und starrte auf das Tapetenmuster der gegenüberliegenden Wand, ohne es wahrzunehmen.
Die Treppenstufen erschienen mir anschließend wie ein Gebirge, das es zu erklimmen galt, mit bleischweren Beinen.
Mum lag zugedeckt in ihrem Bett, hatte die Augen geschlossen und einen entspannten, glücklichen Ausdruck im Gesicht. Genau, wie ich es beabsichtigt hatte, als ich die eine Erinnerung wiederholte, die ihr vor langer Zeit einmal sehr wichtig gewesen war. Ich nahm ihre schmale Hand in meine und bemühte mich minutenlang, sie zu wecken, doch es erfolgte keine Reaktion.
So, wie es sein sollte.
Einen letzten Kuss drückte ich auf ihre Finger, flüsterte ein Lebewohl, kontaktierte den Pfleger in der Außenwelt, gab das Okay zur Abschaltung und wartete die flimmernde Auflösung des virtuellen Körpers meiner Mutter ab. Dann loggte ich mich aus.
Vor der Umkleide wartete Andy und nickte auf meinen fragenden Blick bestätigend. Der Kloß in meinem Hals erlaubte mir das Sprechen noch nicht.
»Sie ist friedlich eingeschlafen. Mein Beileid. Ist alles so gelaufen, wie Sie es sich vorgestellt hatten?«
Ich räusperte mich. »Danke. Und Ja.«
Er reichte mir sein ePad und ich signierte das digitale Dokument, aus dem hervorging, dass die lebenserhaltenden Maßnahmen für die Patientin Nummer 1 eingestellt worden waren. Während der Sterbephase aufgrund altersbedingtem Organversagen, in humanitärer Weise und hospizlich-palliativer Begleitung durch einen nahen Verwandten.
Als ich einige Stunden später das Krematorium verließ, erwartete er mich erneut. Dieses Mal bestätigte ich mit meiner Unterschrift den Erhalt der Asche meiner Mutter.
»Sie hatte ein überaus langes und schönes Leben«, bemerkte Andy, als ich ihm das ePad zurückgab. So, als verspüre seine künstliche Intelligenz das Bedürfnis, mich zu trösten.
»Es gab eine Abweichung«, teilte ich ihm mit, ohne auf seine Worte einzugehen. »Die Erinnerung an den Tod meiner Schwester wollte durchdringen, manifestierte sich in einer Vorstufe, einem Traum. Veranlasse bitte einen Check, der die aktiven Systeme auf ähnliche Vorkommnisse überprüft, die Ursache ausfindig macht, behebt und für die Zukunft ausschließt. Halte mich über das Ergebnis auf dem Laufenden. Wir bleiben in Kontakt. Ich schätze, dass wir euch und die Anlage in etwa einem Jahr nachholen werden. Informiere die anderen Einheiten entsprechend.«
»Sehr wohl«, bestätigte der leitende Androide meinen Befehl. »Ihre Tochter erwartet Sie bereits. Ich wünsche gute Flüge.«
Als die Passagier-Drohne abhob, umklammerte ich die Urne auf meinem Schoß, während meine Nase am Fenster klebte und ich zuschaute, wie der riesige CyberCare-Komplex unter uns immer kleiner wurde und schließlich von der staubig-heißen Atmosphäre verschluckt wurde.
Auf dem Weg zum Spaceport, von dem ich in knapp zwei Stunden ins Weltall abheben würde, um als einer der letzten Erdbewohner dorthin zu fliegen, wo meine Familie bereits seit drei Jahren lebte, erfüllte mich der trostlose Anblick unseres sterbenden Planeten mit Schmerz wie schon lange nicht mehr. Zu präsent war er noch in meinem Herzen, der gerade erst mit allen Sinnen erlebte virtuelle Frühling.
Die Pilotin der Drohne, zur Erde gereist, um mich abzuholen, steuerte den kleinen Flieger mittels moderner Hirn-Implantate, die sie selbst entwickelt hatte. Die junge Transfrau war als Wissenschaftlerin in meine Fußstapfen getreten und außerdem mein jüngstes Kind, das ich scherzhaft ›meinen kleinen Cyborg‹ nannte.
In ihrer verständnisvollen Art hatte sie bislang kein Wort gesagt, aber jetzt streckte sie die Hand nach mir aus. »Du wirst immer noch gebraucht, Paps«, sagte sie sanft. »Du bist derjenige, der das Pflegesystem einst revolutioniert hat! Und jetzt, wo es auf dem Mars immer grüner wird und die Menschen sich langsam heimisch fühlen, wollen sie CyberCare auch dort haben. Es gibt noch viel für dich zu tun!«
Ich erwiderte den Druck ihrer Finger. »Liebes, ich bin ein alter Mann. Was sage ich – ein uralter Mann! Ich werde gerne alles in Gang setzen, aber es kann gut sein, dass du es zu Ende bringen musst.«
Ein schelmisches Lächeln erhellte ihr Gesicht, was mich sehr an ihre Großmutter erinnerte. »So oder so wirst du es erfahren«, sagte sie. »Notfalls durch XXL. Dafür werde ich schon sorgen.«
Der Raumhafen kam in Sicht und meine Tochter konzentrierte sich auf die Landung. Während ich sie dabei beobachtete, kam mir eine plötzliche Erkenntnis: Es bestand durchaus die Möglichkeit, dass ich selbst längst ein Leben im Tank führte.
© Su Halcón aka Susann Ulshöfer
Infos:
Diese Geschichte entstand Mitte Februar anlässlich des abgebildeten Schreibwettbewerbs für eine Anthologie des Polarise Verlags.
Die Vorgaben waren:
- Thema: Körperliches Enhancement
- Genre: Near-Future-Sci-Fi
- Handlungsort: Erdnähe (Erde, Mond, Mars und alles dazwischen)
- Länge: maximal 20.022 Zeichen inkl. Leerzeichen
- Die eingereichte Geschichte muss bisher unveröffentlicht sein (auch online)
Mindestens eines der folgenden Elemente sollte in irgendeiner Form enthalten sein:
- Diskriminierung
- Diverse Charaktere
- Utopisches oder dystopisches Setting
Die Absage erhielt ich am 29.7.2022 und damit die Freigabe zur Online-Veröffentlichung, die am 30.7.22 erfolgte :-)