Kleine Lieblinge

Nur zufällig hatte er den Artikel entdeckt und sich gebannt in ihn vertieft. Jetzt starrte er geradeaus ins Nirgendwo und bemerkte nicht, wie die Zeitung in seinen Händen die Gunst des Augenblicks nutzte und vorwitzig eine papierne Ecke in den frisch servierten Kaffee tauchte, als wolle sie ihn kosten.

Vor seinem inneren Auge erschien ihr Bild.

Den gesamten heißen Sommer über hatte sie jeden Montagmorgen vor dem Geschäft gewartet. Schmächtig, mit zartem blassen Gesicht, geduldig gestützt von dem Stock zu ihrer linken und dem rollenden Einkaufgestell zu ihrer rechten Seite. Wenn sie die üblichen Vorbereitungen beendet hatten und pünktlich um acht Uhr die Eingangstür aufschlossen, war sie die erste, die hereinkam, und er hatte sich angewöhnt, ihr die Tür aufzuhalten und sie dabei mit einem fröhlichen „Guten Morgen!“ zu begrüßen. Sie pflegte, wenn sie auf seiner Höhe war, kurz innezuhalten auf ihrem Stock, ihn anzuschauen, ein kleines Lächeln in ihre Augen zu zaubern, um dann „Und ich wünsche Ihnen ein gutes Heute, junger Mann!“ zu erwidern. Danach entschwand sie in das Innere des Supermarktes, leicht über ihren Stock gebeugt, das Gestell mit der abgewetzten alten Einkaufstasche auf Rädern hinter sich herziehend.

Ferienjob nannte sich was er hier tat, er verdiente nicht schlecht, sortierte Lebensmittel in Regale, schleppte Kisten, klebte Preisschilder auf Marmeladengläser und Reistüten. Er sorgte dafür, montags in ihrer Nähe zu tun zu haben und beobachtete sie unauffällig.

Es war wie ein Ritual. Für eine Weile durchwanderte sie gemächlich alle Gänge, verhielt hin und wieder, um sich eine Ware näher zu betrachten, ging weiter. Erst wenn sie die Tierfutterabteilung erreicht hatte, kippte sie vorsichtig ihr Einkaufsgestell aufrecht, öffnete die alte Tasche und füllte sie. Sieben Dosen Katzenfutter und sieben Dosen Hundefutter, vierzehn verschiedene Sorten, immer von der gerade günstigsten Marke. Dazu ging sie bedächtig von Regal zu Regal, verglich aufmerksam die Preisschilder, nahm eine Dose heraus und schaffte sie, mit einer Hand an den Körper gepreßt, die andere schwer auf ihren Stock gestützt, zu ihrer Tasche, ließ sie hineingleiten und machte sich auf den Weg, die nächste zu holen.
Mit vierzehn Dosen, Stock und Gestell zog sie zur Kasse, um dort in erneuter Prozedur eine Dose nach der anderen auf das Fließband zu legen. Die rechte Tasche ihres grauen Stoffmantels barg eine verknautschte Geldbörse, die sie hinter die Weißblechkompanie plazierte und der die Kassiererin, sobald sie die Rechnung getippt hatte, selbst das nötige Geld entnehmen durfte.
Zweimal hatte er zugesehen, wie die alte Dame anschließend alle vierzehn Dosen erneut in ihre Tasche mühte, später dann war er immer zur Stelle, um ihr diese Arbeit abzunehmen und die Tür aufzuhalten, durch die sie in ihr Leben von Dienstag bis Sonntag davonging, um Montag früh wieder da zu sein.

Eines Montags verweigerte das rollende Gestell den Dienst, eines der altersgeschwächten Räder brach, und da erlaubte sie ihm, die vierzehn Dosen in eine Tüte zu verstauen und ihr nach Hause zu tragen.

Sie gingen schweigend nebeneinder her, hin und wieder betrachtete er verstohlen ihr Gesicht von der Seite, sah die noch nicht gänzlich weißen Haare, silbergrau durchsetzt, eine fein geschwungene Nase, viele Linien, doch wenige wirklich tiefe Falten, hohe Wangenknochen, kleine Krähenfüßchen um einst volle Lippen – er ahnte, dass sie sehr hübsch gewesen sein mußte in jungen Jahren. Sie reichte ihm kaum bis zur Brust, gern hätte er einen Arm um sie gelegt, der Gedanke ließ ihn erröten. Sie schaute ihn an, doch schien nichts zu bemerken.

„Sie sind sehr nett“, sagte sie leise, und er fragte, ob sie wohl Tiere sehr gern habe, etwas Besseres fiel ihm nicht ein. Sie blickte verwirrt und da hob er die Tüte in seinen Armen und wies mit dem Kopf darauf.
„Wegen der vielen Dosen“, erklärte er. „Haben Sie viele Tiere?“

Er sah eine Bank und da sie plötzlich müde wirkte, schlug er vor, sich ein wenig auszuruhen. Sie setzten sich und nach einer Weile wandte sie ihren Blick zu ihm und lächelte.
„Nur zwei“, sagte sie. „Einen Dackel und einen alten Kater. Der Dackel heißt Waldemar und der Kater Paul. Wie mein Mann. Er ist auf einem Augen blind“.
„Ihr Mann ist blind?“ erwiderte er bestürzt. „Das tut mir leid.“
Sie lachte so herzlich, dass er sie wie verzaubert anschauen mußte. Sie war nicht hübsch gewesen, als junges Mädchen, es war Schönheit, die ihm da in kleinen goldenen Flecken ihrer grünen Augen entgegenfunkelte und durch rosig erblühte Wangen schimmerte.
„Nicht meine Mann“, lachte sie, „der Kater ist es, der blind ist auf einem Auge!“
Da fiel er in ihr fröhliches Lachen ein. Sie erhoben sich und gingen weiter, den Rand der Vorstadt verlassend, tauchten sie nun zwischen die grauen Betonriesen der Trabantenstadt.
„So weit haben Sie immer zu laufen?“ stellte er fest. „Kann denn Ihr Mann nicht einkaufen für Sie?“
Sie antwortete nicht sofort, hielt den Kopf erst gesenkt, doch dann sah sie ihn wieder so strahlend an, dass ihn die Jahre schmerzten, die zwischen ihnen lagen.
„Er ist ein guter Mann, mein Paul“, sagte sie mit fester Stimme. „Er tut schon alles für mich. Er erledigt die großen Einkäufe, wissen Sie, er kauft das Brot ein, die Wurst und den Käse. All die Äpfel und Bananen, den Salat und viele Tomaten. Und Butter und etwas Schokolade.“ Sie lächelte. „Manchmal bringt er mir Pralinen mit und dann sitzen wir zusammen, abends, und ich gebe ihm die mit Marzipan gefüllten ab, denn die liebt er so.“
Er entschuldigte sich betreten, doch sie unterbrach ihn und berührte leicht seinen Arm mit ihrer kleinen Hand.
„Woher sollten Sie es denn wissen? Ich möchte auch noch ein wenig nützlich sein, und so lasse ich es mir nicht nehmen, mich um das Futter zu kümmern für Waldemar und Kater Paul. Und sehen Sie“, sagte sie und zwinkerte ihm zu, „es macht mir doch auch Spaß, Sie jeden Montag zu besuchen!“
Das freute ihn und er lachte sie an. Sie verfiel wieder in Schweigen, als hinge sie Erinnerungen nach.

Schließlich blieb sie stehen vor einem der grauen Riesen und nestelte einen Schlüssel aus ihrem Mantel. Er sah ihre schmale Hand zittern, als sie aufschloß, und trat hinter ihr in den Flur. Die Tür scharrte über schmutziggrauen Steinboden, er mußte nachhelfen, damit sie ins Schloß zurückfiel. Es war düster und roch nach feuchten Wänden, etwas in ihm zog sich unangenehm zusammen. Sie machte Anstalten, die Tüte nehmen zu wollen, doch er wehrte ab.
„Ich trage sie nach oben“, beharrte er, und sie stieg sehr langsam die Stufen vor ihm in den vierten Stock hinauf, führte ihn bis vor ihre Wohnung. Einen Moment spürte er, sie würde ihn hereinbitten, vielleicht auf einen Kaffee, doch dann änderte sich etwas und er wurde sich der fremden Stille bewußt in dem kaltdüsteren Gang. Sie stand wartend, verloren in ihrem grauen Mantel, aus dem die dünnen alten Beine wie Stecken in häßliche Schuhe ragten. Plötzlich wollte er weg, so schnell wie möglich. Ungelenk stellte er die Tüte auf den Boden, sah sie nicht an.
„Ja, also dann“, sagte er und sie schien zu nicken und flüsterte „Danke schön.“
„Bis Montag dann“, sagte er, grinste albern und flüchtete die Treppe hinunter, aus der Tür hinaus, rannte gehetzt ein Stück des Weges, bis sich der graue Betonwald endlich lichtete und vereinzelte Sonnenstrahlen seine Haut wärmend trafen. Da erst konnte er wieder atmen. Seine Wangen waren naß von Tränen und er wußte nicht, wer sie geweint hatte.

Den Montag darauf wartete er vergeblich auf sie. Und auch am nächsten Montag kam sie nicht. Die Sommerferien endeten, ein neues Schuljahr begann, und er vergaß schließlich, montags an sie zu denken.

Heute war Herbstanfang, er hatte nur einen Kaffee trinken wollen hier, derweil ein bißchen in der Zeitung geblättert und dann diesen Artikel entdeckt, über eine Statistik. Überdurchschnittlich hoher Absatz von Tiernahrung in Großstadtumgebung. Besonders deutlich zeigte er sich in den Vorstädten, den sogenannten Trabantenstädten. Nichts verkaufte sich dort schneller als Hunde- und Katzenfutter in Dosen. Beim Griff zum Futter für ihre Haustiere ließen sich überwiegend alte Menschen beobachten, alte Menschen mit spärlicher Rente, wohnhaft in spärlichen Wohngegenden, in grauen Vorstadtbunkern. Einsame alte Menschen, die den ebenso spärlichen Rest ihres Lebens teilten mit ihren kleinen LIeblingen, mit Hund oder Katze. Doch sie Statistik hatte man noch weiter verfolgen vertiefen wollen, so stand zu lesen. Wieviele dieser kleinen Lieblinge gab es wohl, welcher Rasse waren sie, gab es mehr Pudel als Schäferhunde, hielt man dort eher Hauskätzchen oder gönnten sich die alten Leute gar einen Siamkater? Und was genau fraßen sie am liebsten, die kleinen Lieblinge? Die Dosen mit Rindfleisch oder die mit Truhhahn gefüllten? Labten sie sich an Ente oder Krabbentopf? Gaben sie sich mit Billigprodukten zufrieden oder wurden sie mit Edelmarken plus Petersiliensträußchen verwöhnt? Und deshalb war man hineingegangen in die Trabantenstädte, die alten Menschen zu besuchen und zu befragen.

„Möchten Sie noch etwas bestellen?“ fragte die Kellnerin. Er schrak zusammen und verschüttete fast den kalten Kaffee. Lehnte dankend ab und zahlte hastig. Draußen war es kühl, doch die Sonne schien und das Herbstlaub hob sich golden vom blauen Himmel ab. Er jedoch sah die Schönheit nicht. Fröstelnd vergrub er die Hände in den Hosentaschen und schritt schnell, begann zu laufen. Im nächsten Supermarkt, an dem er vorbeikam, kaufte er zwei Tüten voll mit Brot, Wurst, Käse, Bananen, Äpfel, Salat, Tomaten und einer großen Schachtel marzipangefüllter Pralinen.
Mit seiner Last machte er sich auf den Weg, der in ihm war, als wäre er ihn schon oft, nicht nur einmal gegangen.

Endlich kam er an. Die Haustür war verschlossen, er veranstaltete ein Klingelkonzert, irgendjemand drückte den Knopf und er stürzte in den muffigen Flur und zum vierten Stock hinauf. Es war kein Schild an ihrer Wohnung, aber eine Klingel. Er schellte und klopfte bis schließlich nebenan die Tür einen Spalt breit geöffnet wurde. Er schaute in ein faltiges mürrisches Männergesicht, brachte keinen Ton heraus, wußte bereits.
„Da ist keiner“, knurrte der alte Mann.
„Bitte – wo ist sie?“ Er wies mit dem Kopf auf die Tüten und fügte fast entschuldigend dazu: „Ich habe für sie eingekauft, Lebensmittel und so.“
Ob er ein Verwandter sei, fragte der Alte, und als er nickte, verbreiterte sich der Spalt ein wenig.
„Sie is‘ gestorben. Vor’n paar Wochen. ’s hat zu stinken angefang’n. Da hab ich die Bull’n geholt. Wußt‘ ja keiner, wen man benachrichtigen soll.“
Er ließ die Tüten auf den Boden sinken, mußte sich an die Wand lehnen.
„Und ihr Mann?“ fragte er leise.
Der alte Mann runzelte die Stirn. „Was für’n Mann? Da war keiner. Schon seit ich hier wohn‘, war da keiner.“
„Und der Hund?“ fragte er. „Und die Katze?“
„Hund? Katze? So’n Blödsinn, dürfen se hier gar nicht hab’n, da flieg’n se gleich raus. Hör’n se, junger Mann, wenn das Ihre Großmutter war, dann hätt’n se sich mal lieber früher gekümmert, nun is‘ es zu spät.“
Der alte Mann schickte sich an, die Tür wieder zu schließen und er trat schnell einen Schritt auf ihn zu.
„Bitte – wie hieß sie?“ fragte er. „Wie war ihr Name?“
„He“, knurrte der Alte. „Woher soll’n ich das wissen? Se sin‘ wohl gar nicht verwandt. Lass’n se mich bloß in Ruh‘!“
Er hob die Hände, eine beinahe flehende Geste.
„Warten Sie, bitte, nur einen Moment noch!“
Die Stimme jetzt mißtrauisch, die Türe fast zu. „Was’n noch?“
„Bitte nehmen Sie das. Es war für sie, aber nun… bitte?“
Der Alte zögerte keine Sekunde. Dann fiel die Tür hinter ihm und den Plastiktüten ins Schloss.

© Susann Ulshöfer

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