Ein Katerleben

Geboren wurde er in den Wintermonaten auf einem Trakehner-Gestüt am Niederrhein, in der Ecke eines Pferdestalles.

Nachdem ihn die behagliche Höhle im Leib seiner Mutter, die bisher sein einziges Zuhause gewesen war, auf schmerzhaftem Weg in eine schockierende Kälte entlassen hatte, waren seine ersten Tage erfüllt von Blindheit, dem Geruch nach Stroh, der wärmenden kuscheligen Liebe der Mutter und dem Kampf mit den Geschwistern um den besten Platz an der Milchfront. Letzteres war schnell kein Problem mehr – an einem der frühen Tage mischte sich ein neuer Geruch unter die bekannten, zu dem eine fremdartige Stimme gehörte. Als es den Stall wieder verließ, hatten er und sein Brüderchen auf einmal genügend Platz, sich auszubreiten und doppelt so viele Zitzen zur Verfügung wie vorher. Es war wie im Schlaraffenland. Nur Mutter benahm sich anders als sonst, tagelang wimmerte sie und suchte nach etwas.

Doch er konnte sich nicht lange Gedanken darum machen, denn er begann zu sehen, und es galt, die wundersame und aufregende Welt zu entdecken. Bald weckte der Besuch der fremden Wesen (Mutter nannte sie Menschen) kein unheimliches Gefühl mehr in ihm und so vergaß er, dass es früher noch weitere Kleine außer ihm und seinem Bruder gegeben hatte.

Eines Tages – ein paar Wochen seines jungen Lebens waren vergangen und er kannte inzwischen jeden Bewohner des Gestüts – kam die Menschenfrau und steckte ihn und seinen Bruder in einen großen Sack. Dort war es unangenehm eng und stickig, der Sack bewegte sich, schwang hin und her, sie wurden durcheinander geworfen und miauten kläglich nach der Mutter, doch erhielten keine Antwort. Da kam so etwas wie eine Erinnerung in ihm hoch, aber bevor er wirklich in Panik geraten konnte, hörte er die Stimmen vieler Menschen, darunter auch eine ungewöhnlich zarte, und der Sack legte sich auf einen Grund und wurde geöffnet. Neugierig kroch er sofort zu der Öffnung, durch die Licht hereinfiel, während sein Bruder sich schüchtern in die hinterste Ecke des Sacks verkroch, was zur Folge hatte, dass er gnadenlos herausgeschüttelt wurde.
Die Menschen sprachen von „zur Probe da lassen“ und „eine aussuchen“ und „Bescheid geben“, dann verschwanden sie und auch der Sack.
Sein Bruder drängte sich furchtsam an ihn, aber er hatte keine Angst und untersuchte die neue Umgebung. Da plötzlich entdeckte er, dass ein kleines Menschenwesen noch da war. Ganz still saß es am Fuße einer Treppe, die nach oben führte und beobachtete sie. Es hatte freundliche blaue Augen, helle Haare und eine sehr nette, lockende Stimme, die in ihm die Sehnsucht nach der Mutter weckte. Er tapste vorsichtig auf es zu und blieb ganz ruhig, als es ihn anfasste, obwohl er innerlich zitterte. Doch das kleine Menschenwesen streichelte ihn ganz vorsichtig. In ihm wuchs das brummende Geräusch, er konnte nicht anders, als es herauszulassen. Der Mensch – man nannte es Kind oder Mädchen, lernte er später – lachte glücklich, griff ihm um den Bauch und barg ihn in seinem Schoß. Er ließ es geschehen – so lange sie nur nicht aufhörte, ihn zu streicheln!

Eine Weile blieben sein Bruder und er nun hier. Keller hieß der Ort, wo sie wohnen durften, und das Mädchen kam täglich, um ihnen Futter zu bringen, mit ihnen zu spielen und sie zu streicheln. Sein Bruder war scheuer und ließ sich nicht gerne von ihr anfassen, er war unglücklich hier, dass wusste er. Dann wurde sein Bruder sehr krank. Innerhalb von wenigen Stunden verschlechterte sich sein Zustand sehr, er musste sich ständig übergeben und das Mädchen schien sehr in Sorge und holte schließlich die großen Menschen, seine Eltern. Die schüttelten viel ihre Köpfe, nahmen das Mädchen mit sich und am nächsten Morgen wachte sein Bruder nicht mehr aus seinem Schlaf auf.

Kurz darauf kamen die Menschen in den Keller herunter. Das Mädchen gab seltsame kurzatmige Geräusche von sich und ganz viel Wasser lief aus seinen Augen. Erst dachte er, es wäre, weil sein Bruder nicht mehr aufwachte, aber als die großen Menschen erst seinen Bruder und dann ihn aus dem Keller trugen, hinaus aus dem Haus, und das Mädchen zurückblieb und ihm nachwinkte, ahnte er, dass ER der Grund war warum sie so viele Tränen weinte (so nannte man das, was sie machte). Die Menschen brachten ihn zurück zur Stätte seiner Geburt, wo er glücklich war, seiner Mutter wieder zu begegnen. Sie erklärte ihm, dass man ihn zurückgegeben hatte, weil sein Bruder gestorben war und es von vorneherein geplant gewesen war, dass einer von ihnen beiden auf dem Gestüt verbleiben sollte. Zum Glück hatte er sich nicht angesteckt und so ereilte ihn nicht des Bruders Schicksal. Er bekam einen Platz in der Küche zugewiesen, aber trotz der vielen Leckereien, die hier für ihn abfielen, stellte er ein neues Gefühl an sich fest – er vermisste das kleine Mädchen.

Groß war daher seine Freude, als sie ihn eines Tages in der Küche besuchen kam – und die Menschenfrau, die ihn und seinen Bruder einst im Sack zu ihr gebracht hatte, erkannte die enge Beziehung, die zwischen dem Menschen- und dem Katzenkind bestand und bekam Mitleid. Sie schickte das Mädchen nach Hause, die Eltern zu fragen und wenige Stunden später zog er wieder um – diesmal in sein endgültiges Zuhause.
Er brauchte nicht mehr in dem Keller zu wohnen, er genoss alle Freiheit im und um das Haus. Seine Mutter durfte er besuchen, wann immer er wollte und auch Streifzüge über die Wiesen und in den nahegelegenen Wald unternehmen, denn er kehrte immer zu seiner kleinen Freundin zurück.

Die Jahre gingen ins Land, er war zu einem stattlichen schwarzen Kater herangewachsen, von einer Größe, wie die Familie des Mädchens noch nie eine Katze besessen hatte – so sagten sie jedenfalls. Das Mädchen war auch groß geworden, es würde bald in die Schule kommen und inzwischen war ein kleines Baby im Haus – ein Schwesterchen. Er und seine Freundin waren noch immer ein Herz und eine Seele, manchmal ließ er sich sogar zu einem kindlichen Spiel von ihr verführen und rannte, wie er es in seiner Jugend getan hatte, einem kleinen blauen Ball hinterher, den sie für ihn warf, packte ihn und lieferte ihn zu ihren Füßen wieder ab. Hin und wieder brachte er ihr – und ihrer Familie, die ihm ebenfalls ans Herz gewachsen war – ein Geschenk von seinen Streifzügen mit, seiner Größe gemäß gab er sich nicht mit winzigen Vögeln ab – er brachte ihnen kleine Hasen. Doch da er hierfür niemals Lob erntete, im Gegenteil sogar ausgeschimpft wurde, verzichtete er bald darauf und tat seine Zuneigung in anderer Weise kund.

Als eines Tages ein hektisches Treiben im Hause begann – Kisten wurden gepackt, überall standen Gegenstände im Weg, er konnte sich kaum mehr bewegen, ohne irgendwo im Weg zu sein – verzog er sich für eine Weile in den Wald, um erst wieder zu kommen, wenn die Aufregung sich gelegt haben würde (wahrscheinlich war ein neues Baby unterwegs oder was sie Frühjahrsputz nannten, war gerade im Gange).

Doch als er nach Wochen endlich wagte, einmal nachzuschauen, musste er zu seinem Entsetzen feststellen, dass neue Menschen in das Haus eingezogen waren. Seine geliebte Freundin suchte er vergebens. Als er sich traurig an die wandte, die meist bestens informiert war – seine mittlerweile betagte Mutter – konnte sie ihm nur mitteilen, dass seine Familie fortgezogen war. Er verstand die Welt nicht mehr. Warum hatten sie ihn zurückgelassen? Seine Freundin brauchte ihn doch, wie konnte sie nur ohne ihn weggegangen sein?
Seine Mutter konnte ihm nicht helfen, doch die Menschenfrau aus der Küche hatte noch etwas für ihn. Zuerst sagte sie zu ihm: „Sie wird dich immer liebhaben, soll ich dir ausrichten, aber sie wollte dir deine Wiesen und Wälder nicht wegnehmen. Du wärst in der neuen Wohnung nicht glücklich gewesen.“ Dabei schaute sie drein, als wäre sie selbst überrascht, dass sie ihm diese Worte weitergab. Zum Schluss sagte sie noch: „Und das hier soll ich dir geben“ und reichte ihm den fransigen, fast zerfetzten blauen Ball, mit dem sie immer Werfen und Holen gespielt hatten.
Den Ball trug er in die Ecke des Stalles, in dem er geboren worden war, das Pferd, das diese Box inzwischen bewohnte, störte sich nicht an dem schwarzen Kater, es kannte ihn. Er rollte den blauen alten Ball mit seiner Pfote ein wenig hin und her, dann legte er sich daneben und blieb lange so. Wenn er gekonnt hätte, hätte er mit seinen Augen Wasser gemacht, so wie es der Menschen Fähigkeit war.

Er erfuhr nie, wie oft sich das Mädchen nach ihm erkundigte in den nächsten Jahren, und auch nicht, dass sie Kenntnis davon erhielt, dass ein Fuchs seinem Leben in spätem Alter ein Ende bereitet hatte.

***

Der schwarze Kater hatte natürlich auch einen Namen: Mohrle. Von den vielen vielen Katzen, die mich in meinem Leben begleitet und es bereichert haben, war Mohrle, der riesige schwarze Kater, die erste, an die ich mich erinnern kann – vergessen habe ich ihn nie. Wir waren damals von Kervenheim nach Geldern umgezogen, aus beruflichen Gründen meines Vaters. Die neue Wohnung lag in einem Reihenhaus im dritten oder vierten Stock, mitten im Stadtgebiet. Mohrle hätte eine Wohnungskatze werden müssen, wie hätten wir ihm dies antun können? Leider konnte ich mich nicht von ihm verabschieden, denn zum Zeitpunkt unserer Abreise war er auf einem seiner geliebten Streifzüge unterwegs. Ich habe ihn nie wieder gesehen.

© Susann Ulshöfer

War Platz 1 des Katzengeschichtenwettbewerbs 1999 von Anna :-)

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