Rufus, der Weihnachtshund
Laura war müde. Die ganze Woche hatte sie immer vierzehn Stunden gearbeitet. Auch heute, an einem Samstag sass sie bereits
wieder seit sechs Stunden im Büro. Sie blickte aus dem Fenster und bemerkte, dass es zu schneien begonnen hatte. Fasziniert
beobachtete sie die Schneeflocken, die langsam durch die Luft segelten. Sie seufzte und wandte ihren Blick wieder dem
Bildschirm zu.
Es war doch jedes Jahr dasselbe. Kurz vor Weihnachten war die Arbeit kaum noch zu bewältigen. Da gab es so vieles, was erledigt
werden musste. Heute war bereits der 24. Dezember – aber auf Laura wartete niemand zu Hause. Sie hatte keine Familie und was
sollte sie sonst tun? Sie blickte auf den Kalender und seufzte nochmals tief.
Schliesslich merkte sie, dass sie sich nicht mehr konzentrieren konnte und schaltete den PC ab. Sie schlüpfte in den dicken
Mantel, setzte die Mütze auf und verschloss sorgfältig die Türe. Mit grossen Schritten gelangte sie zum Aufzug und drückte
den Knopf. Während sie wartete, grübelte sie über den Abend nach. Sie hatte nicht einmal Zeit gehabt, etwas einzukaufen.
Also gab es nur Reis zum Abendessen – aber sie mochte sowieso nicht kochen. Endlich öffnete sich die Türe, sie trat ein und
drückte den Knopf. Die Tür schloss sich geräuschvoll. Doch Laura bemerkte dies nicht.
Draussen hob sie das Gesicht gegen den Himmel und liess die Schneeflocken darauf tanzen. Sie fühlte sich einsam. Da war
niemand, der auf sie wartete oder sie vermisste. Sie spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten und schüttelte den Kopf.
Das fehlte noch! Heulen! Als ob dies helfen würde.
Die wenigen Meter bis zu ihrer Wohnung legte sie zu Fuss zurück. Sie mochte die frische Luft und sog sie tief ein. Dabei hielt
sie den Blick gesenkt. Plötzlich erschütterte sie ein heftiger Stoss – sie verlor das Gleichgewicht und plumpste auf den Boden.
Verdutzt blickte sie in zwei wunderschöne braune Augen.
Sie hob den Kopf etwas mehr – und entdeckte einen grossen Hund mit zerzaustem, nassen Fell. Er schlotterte stark. Leise sprach
sie mit ihm, hob die Hand und streichelte seinen Kopf. Sie stand wieder auf, klopfte den Schnee von den Kleidern und setzte
ihren Weg fort. Nach einigen Metern bemerkte sie, dass der Hund ihr folgte. Er liess sich nicht wegschicken und so liess sie
zu, dass er sie begleitete. Doch zwei Blocks weiter stellte er sich vor sie, knurrte leicht und zerrte an ihrem Mantel. Was
wollte er nur?
Schliesslich folgte sie ihm und sie gelangten an eine offene Türe. Drinnen war ein Geräusch zu hören. Sie trat vorsichtig ein
und blickte sich um. Der Hund schubste sie quer durch das Zimmer bis zur Tür. Als sie diese öffnete, erschrak sie tief.
Da lag ein Mann. Kaum älter als sie selbst – aber ohne Bewusstsein. Sie berührte ihn leicht an der Schulter. Er regte sich
kein bisschen. Sie suchte ein Glas, füllte es mit Wasser und setzte es an seine Lippen. Plötzlich schlug er die Augen auf
und bewegte sich. Er stöhnte laut auf und fasste sich an den Kopf. Da erst bemerkte sie die Platzwunde am Hinterkopf. Sofort
holte sie ihr Handy hervor und wählte den Notruf. Die Sanitäter waren sehr schnell da und luden den Mann ein. Doch von dem Hund
wollten sie nichts wissen. Laura suchte und fand eine Leine und nahm ihn zu sich nach Hause.
Am nächsten Tag fuhr sie ins Krankenhaus und erkundigte sich nach dem Mann. An der genannten Zimmertür klopfte sie leise an,
öffnete und streckte den Kopf durch Spalt.
„Kommen Sie nur herein“, ertönte eine sympathische Stimme vom Fenster her. Sie näherte sich zögernd. Der Mann drehte sich um
und lächelte sie an. „Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe.“
„Ach wissen Sie“, antwortete sie ihm, „das Ganze verdanken Sie Ihrem
Hund. Er hat mich auf der Strasse aufgegriffen und zu Ihnen geführt.“
„Der gute alte Rufus“, murmelte er. „Übrigens, ich
heisse Michael. Gestern wurde bei mir eingebrochen und als ich nach Hause kam, erhielt ich einen Schlag auf den Kopf und
verlor das Bewusstsein. Aber heute kann ich wieder aus dem Krankenhaus heraus.“
Laura blickte ihm tief in die Augen, errötete und meinte: „Dann bringe ich Ihnen Rufus vorbei.“
Er nickte und bat sie: „Essen Sie doch mit mir zu Abend. Ich möchte mich gerne an einem etwas schöneren Ort für Ihre Hilfe
bedanken.“
Sie nickte zustimmend und verliess leise den Raum. Ihr Herz machte einen Luftsprung. Michael gefiel ihr. Sie
hatte noch nie so ein Gefühl gehabt. Alles in ihr fibrierte. Sie fuhr nach Hause und stellte sich vor den Kleiderschrank.
Sie wollte hübsch aussehen.
Zwei Stunden später klingelte sie an Michaels Wohnungstür. Rufus stand brav neben ihr. Doch als sich die Türe öffnete, riss
er sich los und sprang an Michael hoch. Dieser lachte laut auf, wehrte den Hund ab und drehte sich mit strahlenden Augen zu
Laura hin.
Es wurde ein angenehmer Abend und bereits nach einer Stunde merkten beide, dass da mehr war. Sie verabredeten sich für den
nächsten Tag und wollten viel Zeit miteinander verbringen. Rufus war ihr ständiger Begleiter. An Silvester feierten sie
gemeinsam und freuten sich auf das neue Jahr. Jetzt waren beide nicht mehr einsam. Rufus hatte sie zusammengeführt, ohne
zu wissen, welche Zukunft sie dabei erwartete.
Als sie ein Jahr später Weihnachten feierten, schenkten sie Rufus einen
grossen Knochen. Michael und Laura blickten sich an und beide dachten an „ihr“ Weihnachtswunder, das ihnen soviel Freude
und Glück beschert hatte. Und schon bald werden sie zu viert sein...
copyright Lady (am 16.12.05)