Wichtelpost
Als es an der Tür läutete, sah Frau Wunderlich erstaunt auf die Uhr.
"So spät? Wer mag das denn noch sein?"
Herr Wunderlich, der auf dem Sofa saß, gab einen Laut von sich, der entfernt an ein Grunzen erinnerte, und vertiefte sich
wieder in seine Fernsehsendung. Als seine Frau die Tür erreicht hatte, hatte er den Vorfall bereits wieder vergessen, denn
sie bekamen so gut wie nie Besuch.
"Ja, Sie wünschen?"
Frau Wunderlich streckte den Kopf mit den sorgfältig eingedrehten Lockenwicklern zur Tür heraus. Doch draußen war niemand.
"Seltsam", sie schüttelte den Kopf, hielt das Ganze für einen Kinderstreich und wollte gerade die Tür wieder ins Schloss
werfen, als sie spürte, das etwas an ihrem Hosenbein zerrte und zog. Sie sah nach unten und erblickte das seltsamste kleine
Wesen, das sie je gesehen hatte. Es war etwa so groß wie ein Meerschweinchen und trug eine leuchtend rote Filzmütze und Stiefel,
nicht höher als Eierbecher. Die winzige Nase glänzte unter den leuchtenden Augen, und die dunklen Haare quollen unter der
Mütze hervor und standen wirr in alle Richtungen ab.
"Ja bitte?", sagte Frau Wunderlich und rieb sich heimlich die Augen. Sie hätte gerne gefragt, um was für ein Wesen es sich
handelte, doch es wäre ihr entsetzlich unhöflich vorgekommen, und so schwieg sie lieber.
"Guten Abend, ich bin ein Weihnachtswichtel", sagte das Wesen und verbeugte sich, "vielmehr: eine Weihnachtswichtelfrau."
Sie zog einen Briefumschlag, den sie bis jetzt unter der Fußmatte versteckt hatte, hervor und balancierte ihn auf dem Kopf.
Es war ein ganz normaler Briefumschlag, aber für die Wichtelfrau war er riesig, so dass sie unter seinem Gewicht schwankte.
"Eine Sendung für Frau Wunderlich", quietschte es unter dem Papier hervor.
"Das muss ein Irrtum sein", sagte Frau Wunderlich, "ich kriege sonst nie Post!"
Mit einem Seufzer legte die Wichtelfrau den Umschlag auf die Matte zurück und las: "Frau Wunderlich, Köpenicker Straße, Berlin.
Stimmt das?"
"Das stimmt."
Verwundert beugte Frau Wunderlich sich hinab und nahm den Umschlag in die Hand. Er war schwer, und als sie ihn in das matte
Licht der Glühbirne auf dem Korridor drehte, glitzerte er und begann nach Orangen und Plätzchenteig zu duften.
"Was ist da drin?"
Die Wichtelfrau sah verlegen auf ihre Stiefelspitzen.
"Ich weiß es nicht. Das heißt, ich sollte es nicht wissen. Aber irgendwo zwischen der Weihnachtswerkstatt und Berlin habe ich
es vor Neugierde nicht mehr ausgehalten und ihn aufgemacht. Es ist übrigens ein Adventskalender."
"Ein Adventskalender?"
Frau Wunderlich griff in den Umschlag und zog in der Tat einen Kalender heraus. Er war klein, nur so groß wie eine Postkarte,
aber er besaß alle vierundzwanzig Türchen, und sie glitzerten um die Wette.
"Aber ich habe noch nie einen Adventskalender bekommen!"
"Eben, genau das ist uns auch zu Ohren gekommen", sagte die Wichtelfrau mit gespielt strenger Miene, "und so geht das nicht
weiter!"
Sie nieste und schüttelte sich den Schnee von der Mütze.
"Warum kommst du erst so spät in der Nacht?" fragte Frau Wunderlich und drehte und wendete den Kalender, und vielleicht
herauszufinden, was sich hinter den Türen verbarg, "es ist kalt draußen und schneit fürchterlich!"
"Ich habe den ganzen Tag in der Weihnachtswerkstatt gearbeitet", sagte die Wichtelfrau und unterdrückte mühsam ein
Gähnen, "weil ich ihn fertig bekommen wollte. Übrigens: Gib es auf, jedes Türchen öffnet sich erst an dem ihm zugedachten
Tag! Das ist Wichtelmagie, solche Exemplare bekommen nur wenige Menschen."
"Ich dachte immer, Adventskalender gibt es in jedem Supermarkt", sagte Frau Wunderlich und stellte dem Wichtel ein Glas
warme Milch und drei Zimtsterne hin.
"Willst du vielleicht reinkommen, bevor du dich auf den Rückweg machst?"
"Nein und nein", antwortete die Wichtelfrau kauend, "ich muss weiter. Und was die Supermärkte angeht: Sie mögen zwar aussehen
wie echte Adventskalender, aber im Grunde ist es nur Papier, Farbe und ein bisschen Schokolade."
Sie hielt sich zufrieden den runden Bauch und deutete auf den Umschlag.
"Warts ab, morgen früh wirst du verstehen, was ich gemeint habe!"
Frau Wunderlich schloss die Augen und roch an dem Papier. Es duftete jetzt nach Punsch und Stollen und war gerade dabei,
seine Farbe von dunkelrot zu tannengrün zu verändern.
"Danke dir", sagte sie, öffnete die Augen wieder und blickte hinab. Doch die Fußmatte war leer. Das Milchglas war
ausgetrunken und von den Zimtsternen nur ein paar Krümel übrig geblieben.
"Wer war es denn?", fragte ihr Mann, als sie am Wohnzimmer vorbei ging.
"Niemand, den du kennst", antwortete Frau Wunderlich mit einem leisen Lächeln und ließ den Umschlag in die Tasche gleiten.
copyright Katrin Janitz (28 Jahre) (am 03.12.05)