Die Eisprinzessin
An einem unvergesslich schönen, aber bitterkalten Ort lebte einst die Eisprinzessin. Als Beschützerin des Nordlandes bekannt,
befand sie sich auf einem hohen, weißen Berg. Inmitten einer Wolke feiner Eiskristalle, welche wild um ihren Körper tanzten und
ein Diamantennetz der Kälte bildeten, stand sie da. Glitzernd und schillernd umhüllte es die Hüterin, ohne jedoch deren
porzellanweiße Haut auch nur zu berühren. Von weit her konnte man ihren Glanz auf dem Eisberg leuchten sehen, wie die
strahlende Aura einer Heiligen. Sie bewachte die Menschen in dieser Gegend, die heulenden Wölfe, die Bären und die
Schneehirsche.
Niemand durfte zu ihr vordringen, sie war unberührbar, wie alles Göttliche. Doch es gab immer wieder neugierige Ignoranten. Sie
wagten es den Berg zu besteigen um, kurz vor dem Ziel, von einer Schneelawine überrollt zu werden. Es lag nicht in der Macht der
Eisprinzessin diesen Fluch zu brechen und sie empfand tiefes Mitleid. Ihr warmes Herz ließ das Eis mehr und mehr schmelzen. Die
Eiskristalle bewegten sich langsamer und das strahlende Licht, welches von der Hüterin ausging, wurde schwächer. Das Volk
ängstigte sich und Wanderer irrten durch die zunehmende Dunkelheit. Umsonst hatte die Hüterin gehofft, die waghalsigen Männer
würden durch die tödliche Gefahr abgeschreckt. Das Gegenteil war der Fall!
Das Abnehmen der Eiseskälte hatte verheerende Folgen. Der Weg war nun weniger gefährlich und das Ziel rückte näher. Eines Tages
kam ein mutiger Reiter, der schwor, den Berg selbst auf seinem Pferd reitend zu bezwingen. Törichter Zwerg, dachte sich die
Prinzessin, hüllte sich in eine eisige Reifdecke und bat den großen Geist des Nordlandes um Schnee. Da wurde es wieder kälter
im Nordland, ein eisiger Wind wehte und weiße Flocken wirbelten durch die Luft. Das Pferd verlor bald jeden Halt, doch der
Reiter war nicht Willens aufzugeben.
Zorniger denn je beobachtete die Prinzessin das Geschehen. Du Narr, fluchte sie, bald
wirst du dein Pferd verlieren, aber ihr Rufen verhallte im Wind. In diesem Moment stürzte das Pferd. Der Reiter sprang
rechtzeitig ab und blieb davon verschont, von pulvriger weißer Masse begraben zu werden. Mit aufgerissenen Augen starrte er ins
weiße Nichts unter ihm, das Pferd war nicht mehr zu sehen. Blaues, kaltes Licht strahlte mahnend vom Gipfel her auf ihn herab.
Den Verstand fast verlierend, schwor er nun erst recht, sein Ziel auf Tod und Verderb zu erreichen. Er kämpfte sich den Weg
durch Schnee und Eis, unermüdlich, höher und höher. Endlich konnte er die Eisprinzessin sehen, getrieben vom Wunsch sie zu
berühren schleppte er sich weiter. Nur noch wenige Schritte trennten ihn von ihr, als sie eine letzte Warnung aussprach. So
wie du dein Pferd geopfert hast, wirst auch du dein Leben verlieren, gehe zurück.
Aber der Mann ließ sich nicht von seinem
Vorhaben abbringen. Er stand vor ihr und streckte seine Hand aus. Da passierte was passieren musste. Es knisterte und krachte,
feine Linien zogen sich durch die helle, stolze Gestalt der Eisprinzessin. Sie streckte die Hände gen Himmel und ein heller
unnatürlicher Schrei zerriss die Stille. Das Krachen wurde stärker und Tausende von Rissen bahnten sich den Weg über ihren
Körper bevor er in ebenso viele glitzernde Eisstücke zerbrach. Die Splitter flogen in alle Richtungen und der Abenteurer,
welcher kurz vor seinem Ziel scheitern musste, wurde von ihnen durchbohrt.
Aus dem niedergegangenen Splitterberg aber, stieg
die Eisprinzessin unversehrt auf. Der Winterhimmel erhellte sich für einen Tag und eine ganz Nacht, dann verschwand die
Prinzessin für alle Zeiten.
Fortan musste auch Nordland, wie der Rest der Welt, ohne die Hilfe der großen Hüterin der Eiswelt zurechtkommen und erlebte
viele dunkle und kalte Nächte, bevor auch dort ein bescheidener Sommer ins Land zog.
Doch jedes Jahr wieder erinnert sich Nordland an das Geschehen. Dann erhellt sich das Land:
Für einen Tag und eine ganze Nacht.
copyright Gaby Bennett (15.11.04)