Black Gift

Sanft wärmten die ersten Sonnenstrahlen den Boden. Die Aste der Tannen wogen schwer. Die Zweige hingen voller Schnee, in dem sich das Licht spiegelte. Es war Heilig Abend.

In ihrem Zimmer erwachte Jeanne. Sie blinzelte zweimal, um den Schlaf aus den Augen zu vertreiben und sich an das Licht zu gewöhnen. Als sie entdeckte, dass die Sonne durch das Fenster schien, sprang sie auf und schlüpfte in Jeans und einen Pullover. Dann steckte sie ihre Füße in die schweren Stiefel und rannte leichtfüßig die Treppe runter.

Sie hörte in der Küche ihren Vater hantieren und roch den Duft von gebratenem Speck mit Eiern und Kaffee. Leise öffnete sie die Küchentüre und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Aus dem Schrank holte sie Teller und Besteck und breitete alles auf dem Tisch aus. Ihr Vater verteilte den Speck und die Eier, während sie den Kaffee in die Tassen goss.

Jeanne ass brav ihren Teller leer und schlürfte den heissen Kaffee. Ihr Vater beobachtete sie lächelnd. "Was steht heute auf dem Programm?" erkundigte er sich. Er wusste, dass Jeanne sicher draussen helfen wollte. Seit drei Jahren waren sie nur noch zu zweit auf der Ranch, da ihre Mutter an einer Lungenentzündung gestorben war. Seine Stirn umwölkte sich, als er daran dachte. Mit der Hand wischte er sich über die Augen, als ob er dann alles wieder vergessen könnte.
Das sechzehnjährige Mädchen bemerkte seinen Stimmungsumschwung und versuchte ihn mit ihrer Antwort abzulenken. "Weißt Du, ich möchte mit Schneeflocke zu den hinteren Weiden und die Zäune kontrollieren. Danach reite ich gleich noch bei Sam vorbei und bestelle das Zusatzfutter für die Mutterstuten..." "Gut, dann kümmere ich mich um das Stalldach. Sei aber vorsichtig, die Wölfe sind dieses Jahr besonders hungrig..."

Ihr Vater wusste, dass er sich keine Sorgen machen musste. Trotz ihres Alters war Jeanne bereits sehr reif und besonnen. Er sah ihr zu, wie sie das Geschirr spülte und nach draussen verschwand. Noch einmal seufzte er laut und begab sich ebenfalls in die Kälte. Jeanne sattelte ihr Pferd. Schneeflocke war eine ältere Stute. Auf ihr hatte das Mädchen reiten gelernt. Als sie fertig war, pfiff sie ihrem Hund Dusty und ritt winkend los.

Ihre Arbeit dauerte einige Stunden, aus diesem Grund hat sie auch ein paar belegte Brote mitgenommen, die sie mit Dusty teilte. Als der Nachmittag hereinbrach, war sie fertig und machte sich auf den Heimweg. Plötzlich sah sie in der Ferne ein Licht. Neugierig näherte sie sich und zuckte zurück. Vor ihr stand ein junger schwarzer Hengst. Das war zwar nichts Ungewöhnliches - aber das Einhorn daneben. Jeanne rieb sich über die Augen - doch die Pferde blickten ihr noch immer entgegen. "Jeanne, hilf diesem Hengst. Er wurde von Wilderern angegriffen und ist verletzt." Wer hatte da gesprochen. Das Mädchen blickte sich um, aber es entdeckte niemanden. Waren die Worte wirklich vom Einhorn gekommen? "Wer bist du?" fragte sie unsicher. "Ich bin die Beschützerin der Pferde. Während Furcht und Hass die Welt regieren, gebe ich acht auf meine Schutzbefohlenen. Doch diesmal bin ich zu spät gekommen. Ich bitte dich nun um Hilfe, weil ich sehe, dass du ein reines Herz hast." Jeanne stieg von ihrer Stute und näherte sich vorsichtig dem Hengst. Angstvolle Augen blickten sie an. Leise sprach sie mit ihm und begutachtete die offene Wunde am Hinterbein. Sie wandte sich zum Einhorn: "Ich helfe ihm gerne. Aber er muss mit mir mitkommen zu unserm Hof. Dort kann seine Wunde heilen und er bekommt von uns Nahrung."

Das Einhorn senkte den Kopf und nickte. Es wandte sich zum Hengst und erklärte ihm, dass Jeanne ihn versorgen werde. Jeanne holte ihr Lasso und band es dem Hengst um den Hals. Danach bestieg sie Schneeflocke und wand das Ende des Seils um den Sattelknauf. Sie drängte zur Eile, da die Kälte aufzog und die Sonne langsam zwischen den Bergspitzen verschwand. Nach ein paar Metern blickte sie zurück, doch das Einhorn war verschwunden...

Zuhause brachte sie den Hengst in den Stall und versorgte die Wunde. Ihrem Vater erzählte sie die ganze Geschichte - doch er glaubte ihr nicht so ganz. Das klang doch sehr seltsam.

Am nächsten Tag kümmerte sich Jeanne um den Hengst und gab ihm den Namen "Black gift". Weihnachten stand vor der Türe. Traurig dachte das Mädchen an ihre Mutter. Wo sie wohl war? Es war vor drei Jahren gewesen, als sie sich von ihr verabschiedet hatten. Während die Tränen in die Augen stiegen, bemerkte sie in der Ecke wieder dieses seltsame Licht. Vorsichtig näherte sie sich und entdeckte erneut das Einhorn.
"Hör zu, Jeanne. Ich weiss, dass du deine Mutter vermisst. Aus diesem Grund hat sie mich gesendet, um dir zu sagen, dass sie dich ganz fest liebt. Sie sieht vom Himmel herunter und hat dich in den letzten drei Jahren begleitet. Um dir eine Freude zu bereiten, hat sie dir diesen schwarzen Hengst geschickt. Pflege ihn gesund und liebe ihn wie deinen Bruder. Er ist etwas Besonderes..."

Auf einmal wusste Jeanne, dass sie ihre Mutter nicht verloren hatte. Obwohl sie sie nicht mehr sehen konnte, erkannte sie nun, dass sie immer weiterleben würde. In ihrem Herzen war sie immer gegenwärtig und begleitete sie durch die Jahre. "Black gift" würde sie in schweren Zeiten trösten, so wie jetzt, als er den Kopf sanft auf ihre Schulter legte. Sie war nicht alleine.

Ihr Vater beobachtete die Szene unbemerkt im Hintergrund. Leise sagte er: "Danke, Mary. Danke, dass du das für unsere Tochter getan hast."

copyright Lady (9.11.04)