12.12.98
Anruf vom Nordpol
Gelangweilt schaut Anna auf die grosse Uhr im Wohnzimmer. Doch die Zeit will einfach nicht vergehen. Anna gähnt. Ihre Mutter wollte eigentlich nur kurz weg, um noch ein paar Geschenke für heute abend zu besorgen. Anna sollte sich in der Zwischenzeit mit ihren Spielsachen beschäftigen. Doch das war ihr jetzt auch verleidet. Die Puppen hängen ihr schon langsam zum Hals heraus. Sie will mit den neuen Spielsache spielen, die sie sich vom Christkind gewünscht hat. 

"Wann kommt die endlich?" fragt sich Anna ungeduldig und blickt zum Fenster hinaus. Mit Begeisterung stellt sie fest, dass es zu schneien begonnen hat. Aus den Nachbargärten strahlen die erleuchteten Christbäume. Weisse Flocken fallen vom Himmel wie im Weihnachtsfilm, den sie gestern im Fernsehen gesehen hatte. "Fernsehen!" durchfährt es Anna erfreut und rennt zu gleich zum Fernsehapparat, wo sie jedoch feststellen muss, dass die Mutter die Fernbedienung versteckt hat. 

Nach weiteren langweiligen Minuten beschliesst sie hinauszugehen. Wieder hat sie die Rechnung ohne ihre Mutter gemacht. Die Tür ist fest verschlossen. Vergeblich drückt Anna mehrmals auf die Klinke.

Anna nimmt einen selbstgebackenen Keks aus der Dose. "Wenn es doch nur schon Abend wäre," wünscht sie sich und malt sich in Gedanken die Geschenke aus, die das Christkind heute bringen wird. Ihr Blick fällt zum Tannenbaum, der erst am Abend geschmückt wird. Im Gedanken sieht Anna schon die Kerzen leuchten. Plötzlich läutet das Telefon. Anna lauscht. Ja, richtig. Das Telefon klingelt und holt Anna aus ihren Fantasieträumen zurück. Sie schleicht zum Telefon. Wer kann das wohl sein? "Soll ich abnehmen?" überlegt sie und wartet. Das Telefon klingelt immer noch. Das Klingeln klingt geheimnisvoll "Vielleicht ist es das Christkind?" Mit klopfendem Herzen nimmt Anna den Hörer in die Hand. 

"Ja?" Sie lauscht. Endlich ertönt ein tiefe Stimme. "Wer ist da?" Klang so der Weihnachtsmann? "Anna," flüstert sie so leise, dass man es am anderen Ende kaum versteht. "Du heisst Anna, so. Weißt Du, wer ich bin?" fragt die Stimme. Anna verneint. "Ich bin der Weihnachtsmann." Anna verliert vor Schreck die Stimme. "Der....?" "Ja, der Weihnachtsmann," wiederholt der Anrufer, "ich habe von dir einen Wunschzettel bekommen." Anna setzt sich auf den Boden. "Von mir?" fragt sie erstaunt, "aber ich habe doch ans Christkind geschrieben." "Das Christkind hat viel zu viel Arbeit. Darum muss ich ihm jetzt helfen. Verstehst Du?" "Ja," meint Anna zögernd. "Bei mir herrscht heute Hochbetrieb," erklärt der Weihnachtsmann, "in drei Stunden werde ich meinen Schlitten besteigen und losfahren, damit alle Kinder ihre Geschenke bekommen. Aber warum ich dich anrufe: Meine Gehilfen können Deine Schrift nicht richtig lesen. Könntest Du mir nochmals sagen, was Du dir gewünscht hast?" "Du hast sie nicht lesen können?" Anna holt tief Luft: "Also, ich wünsche mir ein Märchenbuch, eine neue Puppe, Farbstifte, Plüschhund... ja, und noch einen Pullover." "Das sind aber viele Wünsche," antwortet der Weihnachtsmann. "Zuviel?" fragt Anna etwas ängstlich. "Nein! Ich werde sie dir schon erfüllen können..." "Wirklich?" ruft Anna glücklich. "Ja, ganz bestimmt," meint der Weihnachtsmann, "Du bist das letzte Jahr so brav gewesen.." Den Rest des Satzes versteht sie nicht mehr, denn soeben ist die Mutter zur Tür hereingekommen, vollgepackt mit grossen Einkaufstaschen. "Mama, Mama," ruft Anna aufgeregt, "am Telefon.." Erschrocken lässt die Taschen fallen und nimmt die Mutter den Hörer an sich. "Hallo, wer ist da?" Niemand antwortet. Nur das Atmen einer Person ist zu hören. "Hallo?" Die Mutter legt auf. "Wer war das?" will sie von Anna wissen. "Ich weiss es nicht....," lügt sie und sagt dann leise: "Beim nächsten Mal musst Du meinen Wunschzettel schöner schreiben!"

 
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