Schwarzer Tee mit Vanille 
Jutta programmierte gerade ein Quiz für eine Weihnachts-Webseite. Sie schaute auf die Uhr, dann in ihren Terminkalender und schaltete den Computer aus. Alles lief nach Plan.

"Mama, es ist Zeit für die Strohsterne", rief Sven aus dem Wohnzimmer.

Jutta stellte "Java für Profis" ins Regal zurück, damit nichts mehr auf dem Schreibtisch herumlag. Obwohl sie viel arbeitete, nahm sie sich genug Zeit für Sven. Der Junge sollte auch ohne Vater glücklich aufwachsen. Jutta konnte ohnehin nicht jeden Auftrag annehmen, denn als selbständige Webseiten-Gestalterin bekam sie viel zu viele Angebote. Ab und zu verabredete sich Jutta mit ihren Freundinnen, um ihre Kontakte nicht zu vernachlässigen.

Jutta ging ins Wohnzimmer, wo Sven schon Stroh, Zwirnfaden und sein Bastelbuch auf dem Eßtisch ausgebreitet hatte.

"Wenn das Haus ein bißchen geschmückt ist, dann wird es richtig weihnachtlich", sagte Sven. "Magst du lieber Tannenzweige oder lieber Misteln, Mama?"

"Das darfst du dir aussuchen", sagte Jutta.

Als die beiden eine ansehnliche Zahl Strohsterne zusammen hatten, klingelte bei Sven das Telefon. Er ging in sein Zimmer, trat vorsichtig über seine Carrera-Bahn, hob ab und schob seine Mathe-Hausaufgaben beiseite.

"Hallo Sven, hier ist Oma." Verschwörerisch fragte sie: "Sag mal, hast du schon ein Weihnachtsgeschenk für Jutta?"

"Es sind doch noch drei Wochen Zeit! Hast du schon eines?"

"Nein, darum rufe ich ja an. Um Ideen zu bekommen." Die Oma redete gern. "Was braucht Jutta denn?"

"Zeit", fiel Sven spontan ein.

"Hat Jutta nicht genug Zeit für dich?", fragte die Oma besorgt.

"Doch, für mich hat sie Zeit." Sven malte kleine Kreise neben seine Mathe-Hausaufgaben. "Aber sie hat keine Zeit für sich selber. Sie ist immer verplant."

"Da können wir wohl nichts machen", sagte die Oma. "Leider gibt es keine Zeit-Firma, wo wir ein paar Stunden kaufen könnten." Sie lachte. "Gibt es nicht sonst noch etwas, was ihr brauchen könnt?"

"Unsere Teekanne ist neulich kaputtgegangen, als Juttas Freundinnen hier waren", sagte Sven. Er schrieb in eckigen Buchstaben Zeit-Firma auf den unteren Rand seines Matheheftes. Kritzeln brachte ihn oft auf gute Ideen.

"Das ist ein guter Tip", sagte die Oma. "Ich schenke ihr eine Teekanne."

"Ich schenke ihr einen freien Nachmittag", sagte Sven.

"Wo nimmst du den denn her?", fragte die Oma erstaunt.

"Jutta wird glauben, daß sie an dem Nachmittag einen Termin hat. Dann kann sie sich nichts anderes vornehmen. Kurz vorher sage ich ihr, daß sie in Wirklichkeit frei hat."

Kurze Zeit später klingelte bei Jutta das Telefon. Sie tippte noch ein paar Zeilen in den Computer ein und hob dann ab.

"Hallo Jutta, hier ist die Mutter", sagte die Oma. "Sag mal, hast du am 25. nachmittags Zeit?"

Jutta schaute auf ihren Wochenplan für die letzte Jahreswoche. Am 25. nachmittags hatte sie den letzten Schliff für die Webseiten einer lokalen Brauerei eingetragen. Die wollten unbedingt zum 1.1. online gehen.

"Ich muß mal sehen." Jutta schob im Geiste ihre Termine herum. Dann trug sie die Webseite am 27. morgens ein, radierte sie auf dem 25. aus und trug dort "Mutti" ein.

In Juttas Wochenplan für die Weihnachtswoche traten sich die Termine gegenseitig auf die Füße. Am 22. die Homepage eines Taucher-Magazines auf den neuesten Stand bringen, einen tischhohen Weihnachtsbaum holen, die Wohnung säubern. In der Nacht schneite es. Am 23.  einkaufen, sich mit dem Fahrrad durch den Schnee kämpfen, mit dem Auto bekommt man ja doch keinen Parkplatz, Erdnußkekse und Zimtsterne backen, Sven liebt Nüsse, den Weihnachtsbaum auf der Kommode neben dem Fernseher aufstellen und schmücken. Am 24. die Weihnachtsgeschenke bei den Freundinnen vorbeibringen, während Sven bei seinen Freunden vorbeischaut, sich wieder mit dem Fahrrad durch den Schnee kämpfen, mit dem Auto bekommt man ja doch keinen Parkplatz, sich über die Geschenke der Freundinnen freuen, bei Gabi eine Teekanne ausleihen, mittags hat sich Sven Lasagne gewünscht, nachmittags gibt es selbstgebackene Kekse und Tee aus geliehener Kanne, dann die Bescherung, Weihnachtsstimmung, Sven spielt Weihnachtslieder auf dem Klavier, Sven in sein Zimmer schicken, der Junge soll schöne Weihnachten haben, die Kerzen am Baum anzünden, Svens Geschenke auf der Couch verteilen, Sven hereinrufen, zusehen, mit welcher Hingabe er seine Geschenke öffnet, selber Geschenke auspacken, eine leuchtend rote Teekanne von Oma, ein "Gutschein für eine Überraschung" von Sven.

Am 25. um kurz vor drei sagte Jutta zu Sven: "Komm, wir müssen uns fertigmachen, wenn wir um vier bei Oma sein wollen."

"Wir müssen nicht zu Oma", sagte Sven.

"Wie meinst du das?" Sven reichte Jutta einen zusammengerollten Bogen Büttenpapier. Jutta zog die blaue Schleife ab und las: "Sehr geehrte Frau Thenius, Ihre Überraschung ist ein freier Nachmittag. Er wird am 25. 12. 2000 nachmittags um drei Uhr frei Haus geliefert. Der Gutschein ist nicht übertragbar. Sie sind berechtigt, an diesem Nachmittag alles zu tun, was nichts mit Arbeit und Terminen zu tun hat. Bitte bestellen Sie auch weiterhin bei der Zeit-Firma."

Jutta ließ sich in den Wohnzimmersessel fallen. "Ich weiß gar nicht, was ich jetzt machen soll", sagte sie.

"Ich koche erst einmal einen Tee", sagte Sven. "Welchen möchtest du?"

"Ähm - den Schwarzen mit Vanille, bitte", sagte Jutta.

Mistelzweige hingen über der Eingangstür, und an allen Wänden hatte Sven die Strohsterne aufgehängt. Er zündete jetzt noch einmal die roten Kerzen am Weihnachtsbaum an, und die flackernden Flammen spiegelten sich in den Christbaumkugeln. Auf einer der Kugeln fuhren zwei sorgfältig gemalte Kinder Schlitten, und Jutta erinnerte sich daran, wie sie früher die Hügel hinuntergebraust war. Der Schnee knirschte unter den Füßen, der Fahrtwind zerrte an den Haaren, und Schneeflocken schmolzen auf der Zunge, wenn man den Mund öffnete. Das war lange her. Sven brachte den Tee in Omas roter Teekanne. Jutta hielt die braune Tasse mit beiden Händen und spürte, wie die Wärme zu ihr übertrat. Der Vanillegeruch des Tees vermischte sich mit dem Zimt und den Misteln zum lebendigen Weihnachtsgeruch, den es nur in diesen Tagen gibt. Die rote Teekanne zeigte der beigen Wohnzimmergarnitur, den hölzernen Eßmöbeln und dem braunen Teppich, daß Weihnachten war. Vor dem Fenster tänzelten weiße Flocken.

"Warst du schon Schlitten fahren?", fragte Jutta.

"Ja, gestern morgen mit Christian, auf dem Hügel hinter seinem Haus", sagte Sven.

"Hast du noch einmal Lust?"

Sie zogen sich warm an und machten sich auf den Weg. Zu Fuß war es angenehm, daß Schnee lag, man ging nicht auf dem harten Asphalt, und der Schnee glitzerte im Licht der Weihnachtsbäume. Sven lieh bei Christian einen zweiten Schlitten aus. Nun zog auch Jutta an einer dünnen Schnur, deren Schlaufe leicht in ihre Hand schnitt, einen gehörnten Schlitten hinter sich her, so wie früher.

"Sogar der Schnee schmeckt nach Weihnachten", sagte sie zu Sven. Er knirschte auch unter ihren Füßen.

Auf dem Hügel angekommen, nahmen sie Anlauf, sprangen auf die Schlitten und brausten den Hügel hinunter. Der Fahrtwind zerrte an Juttas Haaren.