„Kevin, kommst du mal kurz?“
Seine Oma winkt ihn zum Sofa, als seine Mutter in die Küche gegangen
ist, um das Essen vorzubereiten.
Der Junge zieht die Jacke, die er mit sichtbarem
Unwillen anprobiert hat, schnell aus und wirft sie neben den Weihnachtsbaum.
Er läßt sich in den Sessel neben seiner Oma fallen und legt
ein Bein, ihr zugewandt, über die Armlehne.
„Hier“, seine Oma nestelt einen Geldschein aus
dem Jackenärmel und drückt ihn ihrem Enkel in die Hand. Kevin
betrachtet ihn kurz und läßt den Hunderter dann in der Hosentasche
verschwinden.
„Danke, Omi“, sagt er, beugt sich vor und gibt
ihr einen flüchtigen Kuß auf die Wange.
„Ich weiß doch, daß du nie genau
das bekommst, was du dir gewünscht hast, auch wenn deine Mutter sich
Mühe gibt.“ Die alte Frau drückt ihm verständnisvoll die
Hand.
„Na ja“, Kevin zögert kurz, „die Sachen
sind ja alle ganz nett, aber einfach völlig out. Wer spielt denn heute
noch mit Pokémon? Letztes Jahr habe ich mir einen Pikachu aus Stoff
und das blaue Spiel gewünscht, und was bekomme ich? Einen dämlichen
Teddy und ein Computerspiel, von dem keiner meiner Freunde jemals gehört
hat. Und dieses Jahr habe ich extra aufgeschrieben, daß ich Digimons
haben will – sieht das gelbe Ding da unter dem Baum etwa nach Digimon aus?“
Seine Oma sieht ratlos von dem Stofftier zu ihrem Enkel. „Nein, das ist
ein Pokémon“, fährt der fort, „und dieses Computerspiel daneben
hat Frank schon seit Monaten. Statt dem vierten Band von Harry Potter habe
ich ein Buch über so einen Typen namens Merlin bekommen. In der Lederjacke
ist überhaupt kein richtiges Label. Außerdem hatte ich mir ein
T-Shirt von Tommy Hilfiger gewünscht, und auf diesen Billigdingern
steht natürlich nirgendwo ‚Tommy‘ drauf.“
„Ich könnte es daraufsticken“, schlägt
seine Oma vor.
„Ach Oma, du verstehst das nicht“, seufzt der
Junge.
„Als ich jung war, waren solche Dinge noch nicht
wichtig“, entgegnet sie.
„Hättest du dich etwa über Spielzeug
gefreut, das so fürchterlich out war wie meine Geschenke?“ fragt Kevin
zweifelnd.
Seine Oma lächelt versonnen. „Wir haben
uns immer über die Weihnachtsgeschenke gefreut. Wir hatten ja nicht
viel, damals, aber unsere Mutter hat es immer geschafft, uns Kindern eine
Freude zu machen.“
Ihr Enkel läßt sich tiefer in den
Sessel rutschen und sieht zum Fenster, wo sich erste Schneeflocken gegen
die Hauswände abzeichnen.
„Selbst in dem Jahr, als mein Vater gestorben
ist“, fährt seine Oma fort, „haben wir Geschenke zu Weihnachten bekommen.
Mein Vater ist aus dem Lazarett gekommen und am nächsten Tag gestorben.
Er hatte sich gesundschreiben lassen, um am Nikolaustag nach Hause zu dürfen,
deshalb hat meine Mutter keine Rente bekommen. In diesem Jahr habe ich
zu Weihnachten ein Puppenbett bekommen, ein großes, schönes
Bett, und darin lag eine Puppe im Karton, ohne Bettzeug. Die Puppe war
aus Stoff, die Händchen aus Porzellan und der Kopf natürlich
auch, und der Körper war mit Sägemehl gefüllt. Meine Mutter
sagte, sie sei nicht in der Lage gewesen, das Bettzeug zu nähen, später
hat sie es dann gemacht. Und mein Bruder hat eine Schubkarre bekommen.
Meine Mutter erzählte, sie hat eine schöne, stabile Kiste dem
Schreiner gegeben und gesagt, er soll ein Bett davon machen und eine Schubkarre.
Mein Bruder war zwei Jahre alt, und der war stolz, daß er die Schubkarre
hatte, er hat sich so gefreut. Und meine Mutter hat geheult wie ein Schloßhund
– ihr war in einem Jahr die Schwiegermutter gestorben, ein Kind gestorben,
und jetzt noch der Mann. Mein Bruder war ja noch klein, er ging raus und
kam zurück mit dem Spültuch, kroch bei meiner Mutter auf den
Schoß und trocknete ihr die Tränen ab.“ Sie lächelt versonnen,
schüttelt dann leicht den Kopf und sieht ihren Enkel an.
„Na ja, vielleicht waren Schubkarren damals in“,
Kevin zuckt mit den Schultern. „Das ist ja schon so lange her ... Aber
als Mutti klein war, hat sie doch bestimmt was Besseres bekommen, oder?“
„Deine Mutter ist ja auch im Krieg geboren, und
nach dem Krieg war es noch schlimmer, es gab wirklich gar nichts. Aber
ich habe immer ein Weihnachtsgeschenk für sie gehabt. Ich weiß
noch“, lächelnd sieht sie durch den Couchtisch hindurch, „einmal war
eine Freundin von mir eine Woche vor Weihnachten in Lüdenscheid, und
als sie wiederkam, sagte sie ‚Ich kann eine Puppe und einen Puppenwagen
haben!‘ Da gab ich ihr eine Armbanduhr und neuen Kleiderstoff, und sofort
fuhr sie wieder nach Lüdenscheid und kam mit einer großen Babypuppe
aus richtigem Zelluloid und einem Sportwägelchen zurück. Ich
habe der Puppe noch einen grünen Anzug gestrickt, und Helga bekam
sie dann zu Weihnachten und nannte sie Günter.“
„Komischer Name“, wirft Kevin ein.
„Eines Nachts“, fährt seine Oma unbeirrt
fort, „als der Ari-Beschuß kam, kamen deine Mutter und ich aus dem
Nachbarort und mußten sofort in den Keller, und als wir gerade unten
waren, hörten wir schon die Scheiben zerspringen. Plötzlich schrie
sie entsetzt ‚Mein Günter, mein Günter ist oben!‘ Also ging ich
schnell nochmal hoch und holte die Puppe, und wir saßen bis sechs
Uhr morgens im Keller auf den Kohlen.“ Sie schmunzelt gedankenverloren.
„Später lag die Puppe dann immer auf dem
Kleiderschrank, und ausgerechnet mir mußte sie runterfallen. ‚Mein
Günter‘, weinte deine Mutter, ‚meinen Günter hast du mir kaputtgemacht!‘
Er hatte ein großes Loch im Kopf, das Material war ja ganz spröde.
Es tat mir selber leid, Günter war wirklich eine schöne Puppe.“
„Wie kann man nur wegen einer Puppe heulen?“
Kevin schüttelt verständnislos den Kopf, springt auf und geht
zum Telefon. „Ich ruf mal Frank an“, sagt er und verschwindet mit dem Mobilteil
im Flur.
Seine Oma betrachtet einen Moment lang das gelbe
Stofftier, das ihr verschmitzt zuzulächeln scheint, ohne zu ahnen,
daß es den falschen Namen trägt; dann sieht sie den gemächlich
zu Boden torkelnden Schneeflocken zu und denkt ein wenig darüber nach,
wie lang achtzig Jahre sind. |