David 
Zimtduft erfüllte die Luft. David langte nach dem Plätzchen, stopfte es in den Mund, griff dann eine weitere Handvoll Kekse und sauste aus der Küche, ehe ihn die Schimpfkanonade seiner Mutter ereilte. Im Flur schnappte er nach den Handschuhen, öffnete die Tür und stand Niels gegenüber, der gerade die Hand erhob, um zu klingeln.
"He", sagte David und reichte Niels die Plätzchen. In der frostigen Luft kondensierten die weißen Atemwölkchen zu Dampf.
"He", antwortete Niels und griff vorsichtig mit den Fausthandschuhen nach dem Gebäck.
Kauend schlenderten die beiden über den mit Rauhreif gepuderten Rasen, der im Sommer lebhaft bevölkert, jetzt jedoch verwaist war. Ohne sich absprechen zu müssen, zog es die Jungen zum Waldrand. Der ideale Platz, den allgegenwärtigen Erwachsenen aus dem Weg zu gehen, in aller Ruhe Staudämme zu bauen und einfach die Zeit verstreichen zu lassen. 
"Was denkst du? Wird Weihnachten Schnee liegen?" fragte Niels.
David zuckte die Schultern. "Keine Ahnung. Ist auch egal. Hauptsache, keine Schule."
"Hmhm." Niels Nase triefte. Geräuschvoll zog er sie hoch.
Schweigend stapften sie weiter. An der Brücke blieben sie stehen und starrten übers Geländer ins Wasser. Eine winzige Eisschicht, die sich ab und zu löste und mit dem Wasser schwamm, war um die Gräser am Ufer gebildet. Der schmale Bach schlängelte sich zwischen moosbewachsenen Steinen. Vor der Brücke wurde er in einem Rohr gefaßt und erst darunter wieder in sein natürliches Flußbett entlassen. Doch nach der Brücke stürzte der Bach wiederum in einer metallenen Röhre einen oder zwei Meter in die Tiefe, verschwand dann im Fels und sprudelte erst vier Kilometer weiter im Tal als breiter, aber flacher Bach aus den Boden. Wozu die alte Röhrenkonstruktion diente, war nicht mehr bekannt. 
Fasziniert starrte David in die Röhre, die einen  Durchmesser von fast einem halben Meter aufwies. So zusammengepfercht, rauschte das Wasser viel lauter als auf dem restlichen Weg. 
Niels zupfte einen Grashalm ab, warf ihn ins Wasser und beobachtete, wie er in der Röhre verschwand. Sie gammelten eine Zeitlang herum. Davids Handschuh klebte am Eis des stählernen Geländers fest. Als er ihn wegzog, blieben kleine blaue Faser auf Stahl hängen. 
"Stell Dir vor, das wäre deine Haut“, murmelte er versonnen.
"Ich muß jetzt los“, sagte Niels plötzlich und drehte sich um.
"Deine Mutter?“ frage David und deutete mit dem Daumen über seinen Rücken.
Doch Niels warf nur einen hektischen Blick auf seine Plastikarmbanduhr und rannte dann über die Brücke Richtung Dorf.
"He!" schrie David ihm nach. "Was ist denn? Wo willst du hin? Du Mamasöhnchen!"
"Vollidiot!"
"Hasenfuß!" 
"Armseliger Irrer! Du kapierst überhaupt nichts!"
"Dann erklär' es mir, verdammt noch mal!"
Doch Niels winkte nur ab und sauste über die Wiese. Wütend schüttelte David den Kopf. Im Geiste ließ er das Gespräch noch einmal Revue passieren. Er erinnerte sich an nichts, das Niels so aufgebracht haben könnte. Er machte eine hilflose Geste mit den Händen, die ihn um Jahre älter wirken ließ. 

"Hast du Niels gesehen?" erkundigte sich Davids Vater.
"Seit gestern mittag nicht mehr. Warum?" David schaufelte den letzten Rest Nudeln in den Mund. Er bemerkte einen schnellen, beunruhigenden Blick zwischen seinen Eltern.
"Gestern war er kurz vor dir zu Hause und zog dann wieder los. Seitdem ist er verschwunden."
"Uh!" Vor Staunen wurden Davids Augen ganz groß. "Er ist ausgebüchst?"
"Vielleicht. Die arme Frau Tempsky", seufzte Davids Mutter. 
"Jedenfalls kann Niels jetzt endlich machen, was er will." Ein gehässiger Unterton schwang in Davids Stimme.
Seine Mutter packte ihn am Arm und zwang ihn so, sie anzusehen. "Sie ist krank, David. Sie liegt im Bett und muß ständig gepflegt werden." 
"Aha?" David bemühte sich, gelangweilt zu klingen, doch er wurde nachdenklich. Kein Wunder, daß Frau Tempsky Angst hatte, Niels könne sich verletzen und ihm immer wieder interessante Dinge wie Fußballspielen oder Inlineskating verbot. Wenn er dann ein paar Wochen im Krankenhaus läge, wäre sie völlig hilflos. Hastig wischte David die Hände an die Serviette, murmelte etwas Undeutliches, ergriff Anorak und Mütze und rannte über die Wiese. Erst an der Brücke blieb er keuchend stehen und blickte in die Strudel. Hier hatte er zuletzt mit Niels gesprochen, und hier hatten sie sich in einem sinnlosen Streit getrennt. Gedankenverloren kratzte er die dünne Schneeschicht am Geländer zusammen und baute einen winzigen kleinen Schneemann.

Davids Hände wurden kalt, die Fingerspitzen gefühllos. Hätte er doch nur an seine Handschuhe gedacht! Unter Mißachtung jeglicher Gefahr kletterte er auf das Geländer, setzte sich und dachte nach. Eine Weile später spürte er die Kälte wie kleine Bisse an den Zehen. Ein Frösteln überlief ihn. Dann entdeckte er in der Ferne eine vermummte Gestalt. Niels. David winkte, stieß dabei den Schneemann ins Wasser, packte die Geländerstange, rutschte mit den klammen Fingern ab, verlor das Gleichgewicht und stürzte rücklings in den Bach. Einen Moment lang glaubte er, sein Herz stünde still, dann kam er prustend an die Oberfläche. Der Bach war nicht tief, doch die eisige Wasserströmung zerrte ihn erbarmungslos mit sich. David schnappte nach Luft, versuchte sich mit steifen Fingern an Gräsern festzuklammern und trieb kopfvor durch die Röhre unter die Brücke. Dort bildete sich ein kleiner Wirbel. Heftig schlug David mit den Armen. Schließlich gelang es ihm, sich umzudrehen, doch ehe er sich festkrallen konnte, riß ihn das Wasser mit sich, und er stürzte in das Rohr. David rang um Luft, um sich das laute Rauschen des eisigen Wassers. Wenig später zerrte die Nässe nicht mehr so stark an seinen Kleidern, das Rauschen wurde leiser. David sah sich um. Er befand sich in einer unterirdischen Höhle. Das Rohr hatte lediglich zu einer breiten Ausbuchtung geführt, in der sich das Wasser träge bewegte. David paddelte an den Rand. Sein Kopf schmerzte, und als David die Beule befühlte, war seine Hand voll klebrigen Blutes. Hustend schälte er sich aus den triefenden Kleidern, wrang sie so gut es ging aus und schlüpfte zitternd wieder in Pullover und Jeans. 

Die Arme um sich geschlagen, ließ er den Blick über die Felsen gleiten. Aus dem Deckengestein drangen dünne Lichtlanzen und tauchten die Höhle in schummeriges Licht. Der Bach verbreiterte sich auf etwa drei Meter, links erhob sich die schroffe Felswand, rechts aber lag ein zwei Meter breiter Felsstreifen, auf dem David nun kauerte. Felsbrocken waren abgeplatzt und lagen unregelmäßig auf dem Streifen. David drang tiefer in die Höhle. Das Rauschen verstummte fast völlig. Vor ihm befanden sich seltsame Gebilde. Manche hingen von der Decke, andere waren abgebrochen, wieder andere schienen aus dem Boden zu wachsen. Bleiche, seltsam geformte Steine, feucht. David erinnerte sich an den Schulunterricht. Tropfsteine. Er trat näher. Die Steine waren unregelmäßig, nicht kegelförmig wie im Unterricht. Vor ihm lag ein zerbrochener Stein, dessen größtes Stück noch größer als David war. David krabbelte darüber. Fast an der Felswand erhob sich eine dünne Säule, seltsam verdreht. Es schien, als sei ein kleiner Mensch in einer Bewegung eingefroren. David ging noch einen Schritt weiter. Er ließ seine Hand über die Figur gleiten. Im oberen Drittel befanden sich ein kleiner Erker und zwei dunklere Flecken im Gestein. Dann stieß er keuchend den Atem aus. 
"Niels", flüsterte er und tastete erneut über den Stein. Er sah es deutlich. Die große Nase, die Augen, der ernst geschlossene Mund. Der Brustkasten war schmal, die Rippen traten deutlich hervor. 
"Niels! Wie kommst du denn hier her?" fragte David. "Du bist ganz kalt." 
Er zog seinen Pullover aus und hängte ihn über den Stein. Dann schüttelte er den Kopf, nahm den kalten, nassen Pullover wieder weg und drückte seinen eigenen schmächtigen Oberkörper gegen den eisigen Stein. David zitterte. Laut schlugen seine Zähne aufeinander. Er fühlte die Kälte durch die dünne Haut tief in sein Inneres dringen.  Das Zittern steigerte sich zu heftigem Beben. 
"Bald geht es dir wieder besser", stieß er unter Anstrengung hervor. Und allmählich wurde ihm wärmer. David spürte die Kälte des Steines nicht mehr, hielt ihn fest umschlungen. Und allmählich zog der Stein nicht nur die Wärme aus David, sondern auch das Leben. Jetzt ragten zwei Zwillingssteine aus dem sandigen Erdreich.