Es war kalt in Mirandahl. Die
Sonne ging gerade unter und die einsetzende Dämmerung vertrieb gemächlich
das Tageslicht aus der Stadt. Die Wege und Straßen waren bereits
weihnachtlich geschmückt. Einige Bewohner hatten aus dem letzten Weihnachtsfest
offenbar wenig gelernt und feilschten noch mit den Händlern um die
Preise der Geschenke. Andere trugen noch schnell die Lebensmittel für
das Fest nach Hause. In wenigen Stunden würde der köstliche Duft
gebratener Gänse und geschmorten rotem Kohl durch die Straßen
ziehen.
Das alles kümmerte Bombur wenig. Er kannte
das aufgeregte Treiben schon seit vielen Jahren. Er überlegte kurz
und stellte gleichmütig fest, dass es bereits das 65. Weihnachtsfest
war, das er hier in Mirandahl erlebte. Er seufzte leise, als ihm klar wurde,
dass er schon 135 Jahre alt war. Im besten Alter von 70 Jahren hatte er
die Zwergenmine im Zorn verlassen. Bombur konnte nichts dafür, dass
der Stollen einstürzte. Als er damals mit der Spitzhacke die Wasserader
aufschlug, geschah es ganz im Vertrauen auf die Pläne, die genau an
dieser Stelle eine Goldader verzeichnet hatten.
Gnome haben eine ausgeprägte Neigung zu Veränderungen
und neuen, abenteuerlichen Erfindungen. Die Gnome, welche die Karten erstellt
hatten, behaupteten Stein und Bein, sie hätten Bombur rechtzeitig
informiert, dass die Farben für Wasser- und Goldadern getauscht wurden.
Sie waren sogar recht stolz auf diese Innovation, weil sie Blau für
viel passender für eine Goldader hielten. Die Tatsache, dass Gold
nicht blau war, störte sie überhaupt nicht. Bombur konnte den
Zwergenrat nicht gänzlich von seiner Unschuld überzeugen. Zu
viele Gnome sprachen gegen ihn. Der Gnom, der Bombur angeblich informiert
hatte, verschwand einfach, so dass er nicht befragt werden konnte. Der
Rat beschloss aus Mangel an Beweisen, Bombur nicht zu bestrafen. Und dennoch
trafen ihn die misstrauischen und vorwurfsvollen Blicke der anderen Zwerge
jedes Mal bis ins Mark. Kurz nach dem Unfall warfen die Zwerge kurzerhand
alle Gnome aus der Zwergenmine, weil ihre neueste Erfindung (ein dampfbetriebener-vollautomatischer-mit-Schuttabtransportvorrichtung-versehener-Stollenbohrer)
fast sofort nach Inbetriebnahme explodierte und damit den halben Berg im
Umkreis von mehreren Quadratkilometern verteilte. Seitdem wird in der ehemaligen
Zwergenmine das Gold im Tagebau geschürft.
Aber das alles erlebte Bombur nicht mehr. Er hatte
aus Gram und Verbitterung schon längst sein Bündel geschnürt
und verließ die Zwergenmine bei Nacht, um bei den Menschen zu wohnen.
Da, wo ihn niemand kannte. Er kam in Mirandahl an und errichtete eine Schmiede.
Er hörte nur durch die Marktschreier von der Explosion. Niemals wieder
würde er den Berg so sehen, wie er ihn in Erinnerung hatte. Er behielt
diesen wunderschönen Ort so, wie er ihn kannte, in seinem Herzen.
Nachdem sich die Bewohner an den mürrischen
und eigenbrötlerischen Zwerg gewöhnt hatten, lernten sie sein
handwerkliches Geschick zu schätzen. Bombur stellte Schmuck in einer
nie da gewesen Schönheit her. Seine Waffen waren so scharf, dass nicht
wenige Krieger sich die Finger schnitten, weil sie die Klingen bei der
Übergabe prüften. Seine Rüstungen waren reich verziert und
aus besonders robustem Stahl geschmiedet. Seine Möbel nur aus edelsten
Hölzern gefertigt und jedem Raum eine gemütliche Wärme verleihend.
Seine Schnitzereien waren besonders bei Kindern sehr beliebt. Bombur stellte
gerne kleine Holzfiguren her, die er den erwachsenen Kunden schenkte. Niemals
würde er die Spielzeuge direkt an die Kinder geben. Zu groß
war seine Furcht, die Kinder würden die gewünschte Distanz nicht
einhalten und ihn womöglich in den Arm nehmen, um ihm zu danken. Wie
sollte er denn darauf reagieren? Von weit her kamen seine Kunden oder schickten
Boten um Ihre Bestellungen aufzugeben.
Am Vorabend des Weihnachtsfestes saß er
vor seinem Kamin in einem Schaukelstuhl und stopfte die Pfeife mit wohlriechendem
Tabak. Er blickte dabei aus dem Fenster und wunderte sich mal wieder über
die Menschen. Soviel Hektik und soviel Stress. Am meisten wunderte er sich
darüber, dass sich die Menschen das selbst antaten. Für Bombur
gab es nichts schöneres, als die Ruhe und die Wärme seines Heims
zu genießen. Sollten die Menschen doch Weihnachten feiern und ihm
seine wohlverdiente Ruhe lassen. Nebenbei bearbeiteten seine geschickten
Finger mit einem Schnitzmesser ein Stück Holz. Ohne zu wissen, was
er da formte, bewegten sich seine Finger automatisch. Er war so in Gedanken
versunken, dass er seine Hände gewähren ließ.
Die letzten Tage war es bitterkalt geworden. Keine
Wolke stand am Himmel und nachts fiel die Temperatur noch weiter unter
den Nullpunkt, als tagsüber schon. Das war für die Jahreszeit
typisch in dieser Gegend. Das Wetter war eines der meist diskutierten Themen
von Mirandahl. Alles war perfekt, bis auf eine Kleinigkeit. In diesem Jahr
hatte noch nicht eine einzige Schneeflocke den Boden berührt. Die
Kinder von Mirandahl wünschten sich den Schnee sehnlichst herbei.
Sie sprachen die ganze Zeit davon, wer den größten Schneemann
bauen würde. Wer dieses Jahr am schnellsten mit dem Schlitten den
Hang hinunter rodeln würde. Wer wohl dieses Jahr beim Rodeln einen
unfreiwilligen Ausflug in die Büsche unternehmen würde. Sie vermissten
die Schneeballschlachten. Sie hatten auch schon die tollkühnsten Pläne
geschmiedet, wie man am besten die Schneebretter über den Eingangstüren
ins Rutschen bringen könnte. Genau in dem Moment, in dem die Bewohner
des Hauses ins Freie traten. Alles was fehlte, war Schnee.
Die Eltern mussten den Kindern immer wieder erklären,
warum es in diesem Jahr noch nicht geschneit hatte. Sie versuchten es zu
erklären, obwohl sie den Grund dafür auch nicht kannten. Es lag
immer zur Weihnachtszeit Schnee in Mirandahl. Nur dieses Jahr nicht. Die
Gesichter der Kinder wurden mit jedem Tag ein wenig länger und so
trotteten schon seit einiger Zeit gelangweilte und traurige Kinder an Bombur’s
Fenster vorbei. Die Kinder hatten sogar keinen Spaß mehr daran, Steine
gegen die Fensterläden der Schmiede zu werfen. Und seit zwei Wochen
hat auch kein Kind mehr versucht, den großen Baum neben der Schmiede
zu erklettern, um von dort aus ein Laken über den Kamin der Schmiede
zu werfen. Die Kinder schlichen sich auch nicht mehr durch seinen Garten,
um einen Blick in die Schmiede zu erhaschen und den alten, brummigen Zwerg
bei seinem Tagewerk zu beobachten. Immer hörte er die kleinen tapsigen
Schritte, vermied es aber sich umzudrehen, um die Kinder nicht zu erschrecken.
Bombur schnitzte und zog dabei gedankenverloren
an seiner Pfeife. Er formte blaugraue Rauchringe, die langsam durch den
großen Raum zogen. Die Wärme des Kamins wärmte seine alten
Knochen und doch war eine Unruhe in ihm. Irgendetwas störte ihn. Etwas
fehlte ihm. Er konnte den feinen Geschmack seiner Pfeife nicht richtig
genießen. Er musste etwas unternehmen, so wie er es immer tat, wenn
diese Unruhe in ihm aufkam. Mittlerweile war es dunkel geworden. Bombur
legte das Holzstück beiseite, stand auf und ging an die Kiste, die
am Fußende seines Bettes stand. Er kramte einige Zeit in der Kiste
herum und zog dann mit einem verschmitzten Lächeln eine einfache und
unscheinbare Flöte hervor.
Schmunzelnd ging er zurück zu seinem Schaukelstuhl
und ließ sich dort nieder. Er betrachtete geistesabwesend die
kleine Flöte und streichelte zärtlich die Oberfläche. Die
Flöte hatte Bombur einst von seinem Vater überreicht bekommen.
Er hatte ihm auch die Geschichte erzählt, die diese Flöte besaß.
Sie wurde vor langer Zeit von einem mächtigen Magier verzaubert. Man
musste nur auf dieser Flöte spielen und die Melodie würde von
alleine entstehen. Und das, woran der Spielende in diesem Moment denkt,
geht in Erfüllung. Diese Flöte soll laut der Überlieferung
noch einen Wunsch beinhalten. Es gab nur eine Bedingung. Der Wunsch musste
aus dem Herzen kommen. Wenn dieser letzte Wunsch erfüllt würde,
dann wäre das Instrument nur noch eine ganz normale Flöte.
Bombur schaute aus dem Fenster und sah vor seinem
inneren Auge die traurigen Gesichter der Kinder. Irgendwie vermisste er
das vertraute Geräusch, wenn kleine Steine an seine Fensterläden
flogen. Obwohl er es nie zugeben würde, fehlten ihm die Schritte,
der im Garten schleichenden Kinder. Und der Geruch, wenn der Kamin wieder
einmal abgedeckt wurde, war ihm auch schon so vertraut. Und wozu hatte
er sich denn den langen Greifarm gebaut, mit dem er das Laken vom Kamin
ziehen konnte?
Er nahm die Flöte behutsam in seine kleinen
Hände, schloss die Augen, holte tief Luft, und hörte nur auf
sein Herz. In diesem Moment wurde ganz Mirandahl von einer feinen und besonders
schönen Melodie erfüllt. Die Bewohner schauten auf und lauschten
der Melodie. Niemand konnte sagen, von wo die Musik ertönte. Sie war
überall in der gesamten Stadt und in der umliegenden Gegend zu hören.
Nachdem die letzte Note verklungen war, nahmen die Menschen ihre Tätigkeit
wieder auf und vergaßen die eben gehörte Melodie sofort wieder.
Aber die Lippen der schlafenden Kinder umspielte allesamt ein seliges Lächeln.
Die Menschen, die noch wach waren, merkten, wie die Luft sich veränderte.
Sie wurde noch klarer und roch nun nach Winter.
Bombur steckte die Flöte in die Brusttasche
seines dicken Hemdes und ergriff das Stück Schnittholz und fing wieder
an, es mit dem Messer zu bearbeiten. Er schaukelte dabei vor sich hin.
Eine halbe Stunde später stellte Bombur einen kleinen geschnitzten
Schneemann, mitsamt einer winzigen hölzernen Möhre als Nasenersatz,
auf den Kamin. Der Schneemann besaß ein Lächeln, so breit, wie
es nur Schneemänner haben konnten. Er drehte sich zum Fenster um und
blickte hinaus. Er konnte die kalte Winterluft riechen. Sie schmeckte nach
Schnee. Wenige Augenblicke später fing es an zu schneien. Die Flocken
wurden immer mehr und immer größer. Schon nach wenigen Minuten
war der Boden mit einer lückenlosen Schneeschicht bedeckt. Schon bald
konnte Bombur nur noch wenige Meter weit blicken, so dicht war der Schneefall.
Wenn es so weiterschneien würde, dann wäre alles am nächsten
Morgen von einer 50cm Meter hohen Schneedecke bedeckt. Bombur zog noch
einmal an seiner Pfeife. Er genoss den feinen Tabakgeschmack auf seiner
Zunge. Er klopfte die Pfeife in seinem handgeschnitzten und reich verzierten
Aschenbecher aus. Danach stellte er sie auf ihren Platz neben den kleinen
Schneemann. Und wer Bombur in diesem Moment hätte sehen können,
dem wäre ein zufriedenes und glückliches Lächeln aufgefallen. |