Das Thüringer Weihnachtskarussel Schorsch am 23.11.97 Ein von Kerzen angetriebenes vierstöckiges Thüringer Weihnachtskarussell, auf dem sich auf allen Etagen reges Leben abspielte, geriet von einer Sekunde auf die andere außer Kontrolle. Den vielen Heiligenfiguren flogen die Köpfe reihenweise vom Hals, auch Schafe, Tannenbäumchen und kleine Thüringer Bauernhöfe wurden durch die Luft gewirbelt und verstreuten sich in unschöner Weise auf dem Teppichboden des weihnachtlich geschmückten Zimmers. Die unterste Etage hatte auf Grund der gewaltigen Fliehkraft die höchste Verlustrate aufzuweisen. Dort unten hatte man keine Chance heil davonzukommen. Während sich einige Figuren der zweiten Etage noch mühsam an verstreut herumliegenden Leimresten festkrallen konnten und auf der obersten Etage noch fleißig Tango getanzt wurde, kam für die Bewohner des Erdgeschosses jede Hilfe zu spät. Ein Schaf wurde in der Mitte auseinandergerissen, einer melkenden Bäuerin aus dem achtzehnten Jahrhundert flog der hölzerne Euter ihrer Kuh ins Gesicht, worauf sie das Gleichgewicht verlor, von der Plattform in den Raum geschleudert wurde und schließlich und endlich im Maul einer scheinschwangeren Hündin landete, die es sanft wie ihr Baby in ihr Körbchen trug. Einem trompetenden Engel mit roten Haaren und Stirnband in Türkis wiederfuhr ein ähnliches Schicksal, nur daß er in den Krallen einer Katze landete, die ihn mit einer Maus verwechselte und versehentlich verschluckte. Die Bewohner der dritten Etage, einige Hirten mit großen Spazierstöcken durch die langen Mäntel gesteckt, überlebten nur, weil man sie am innersten Rand ihres kleinen Lebensraumes postiert hatte, da, wo die Fliehkraft nicht so groß war. Sie verloren nur ein paar Hirtenhunde, die unsachgemäß verleimt waren, sowie einige Schafswelpen, die sich aus Unerfahrenheit zu weit über den Rand hinaus gewagt hatten. All das beobachtete der kleine Sascha mit stetig wachsender Begeisterung und steckte die zwölfte Kerze an, um die Geschwindigkeit des Thüringer Weihnachtskarussells noch zu erhöhen. Heißa!, jetzt flogen auch die Hirten weg, - zuerst deren Hüte, dann zog es ihnen die Mäntel aus und »schwupps« wurden sie vom Zimmer aufgesogen und landeten unsanft, vielleicht an einem Stuhlbein oder in einer offenen Schublade. Manchmal kam die scheinschwangere Hündin vorbei und nahm sich einen neuen Welpen mit. Nur einen besonders dicken Hirten schloß sie als möglichen Nachwuchs aus und verwies ihn vor die Schwelle ihres Hauses. Die Katze floh in Panik vor herumfliegenden Figuren, weil sie sich an dem Engel gründlich den Magen verdorben hatte. Auch zwei echte Thüringer Nußknacker bekamen die Folgen des irren Treibens unsanft zu spüren. Der kleinere von ihnen wurde von einer Wallfahrtskirche mitsamt einigen Wallfahrern am Unterkiefer getroffen, der abbrach und in mehreren Teilen zu Boden fiel. Die Glocken im Kirchturm leuteten ein kurzes Weihnachtsoratorium, dann wurde es wieder still in dem Zimmer. Es roch nach Äpfeln und Nüssen und nach verkohltem Holz. Das waren die Flügel der Weihnachtspyramide, die jetzt in hellen Flammen standen. Nach und nach warf die Pyramide die brennenden Flügel ab, die sich wild im Zimmer verteilten und unschöne Brandflecken auf den Teppich zauberten. Gott sei Dank war ja der kleine Sascha anwesend. Er sang Weihnachtslieder und tanzte einen Tanz, den man in Thüringen noch nicht kannte. Als die Mutter und der Vater von der Christmette in Richtung Heimat spazierten, konnten sie ihr Haus schon von Weitem erkennen. Die Flammen schlugen meterhoch aus dem Dachstuhl und sorgten so für eine ungemein festliche Weihnachtsstimmung, die man nicht so schnell vergißt. Frohes Fest! |