Inzwischen
hatte ich den kleinen Ort Cassis erreicht und damit etwas mehr als
die Haelfte der Strecke nach La Ciotat hinter mich gebracht. Der D 559
folgte ich nun nur noch ein kurzes Stueck, denn ich wollte Cassis nicht
umfahren, sondern den Weg ueber eine der eindrucksvollsten Hoehenstrassen
Suedfrankreichs nehmen, die Corniche des Cretes. Die Abzweigung
war leicht zu verfehlen - nur ein unauffaelliges Holzschild wies den Weg,
soweit ich mich erinnerte - aber ich fuhr langsam und verpasste es nicht.
Die ersten Kilometer stieg die Strasse sehr steil bergan, dazu kam, dass die senkrecht abstuerzenden Seiten voellig ungeschuetzt waren, trotzdem fuhr ich gaenzlich ohne Angst und viel selbstsicherer als im letzten Oktober mit Rob auf dem Beifahrersitz, mir alle zweihundert Meter erklaerend, wieviel besser doch er den Wagen hier hinauf steuern wuerde. Mein Guete - was war nur los mit mir? Warum spukten mir all diese negativen Erinnerungen an ihn durch den Kopf? Ich schaltete das Radio ein, um mich abzulenken und fuhr noch etwa fuenf Kilometer weiter bis zum Plateau, dort stellte ich den Golf auf dem Touristen-Parkplatz ab. Ich wollte kurz die Aussicht geniessen. Ein paar Meter weiter bot sich mir ein herrlicher Blick: bis zum Horizont breitete sich in der Sonne glitzernd und funkelnd das Mittelmeer aus, rechter Hand schmiegte sich das kleine Cassis in seine Bucht, links duckte sich La Ciotat zwischen die Felsen, ich konnte die maechtigen Kraene auf der Seite des Hafens erkennen. Die Stadt La Ciotat widmete sich vorwiegend dem Schiffsbau. Vorsichtig naeherte ich mich dem ungeschuetzten Abgrund, starrte - wie es mir vorkam eine Ewigkeit - durch schmale Spalten hinunter auf die schaeumende Gicht der Wellen, die sich - unhoerbar in dieser Hoehe - wuetend gegen die Klippen warfen. Ploetzlich schwankte ich ein wenig und trat erschrocken ein paar Schritte zurueck, hatte ich doch fuer einen Moment eine unbeschreibliche Lust verspuert, mich einer Moewe gleich zu ihnen dort hinunterzuschwingen, um die ungebaendigte Kraft dieser Wogen aus naechster Naehe zu erleben. Schon damals, als ich mit Rob zum ersten Mal hier oben war und einen atemberaubenden Sonnenuntergang erlebte, hatte ich dasselbe Gefuehl verspuert. Aber als ich aufschaute, sah ich, dass Rob dem Abgrund viel naeher war als ich - ein seltsamer Ausdruck auf seinem Gesicht machte mir ploetz1ich grausige Angst davor, er koenne noch einen Schritt vorwaerts tun. Als ich ihm zurief, dass wir nun doch weiterfahren sollten, kehrte sein Blick von weit her zurueck zu mir und die Gefahr war vorueber. Noch Tage danach spuerte ich hin und wieder das Gefuehl kalter Leere in mir bei dem Gedanken, ich haette ihn verlieren koennen. Nun hatte ich ihn verloren. "Hallo? Kalte Leere?" Ich lauschte in mich hinein, doch da war nichts, was mir antwortete. Vielleicht, wenn ich ein bisschen laenger gewartet haette? Doch danach verlangte mich nicht. Ich wollte endlich die letzten Kilometer nach La Ciotat hinter mich bringen, in Ruhe am Strand in der Sonne liegen, ausspannen, nicht denken. Ich ging zurueck zum Auto. Das braune eingeschnuerte Paeckchen auf dem Beifahrersitz bedachte ich mit einem kurzen Blick. Ich konnte mich nicht entschliessen, es zu oeffnen. Die Strecke wand sich nun in zahlreichen Schleifen um enge Kurven herum steil bergab ins Tal. Da ich sehr langsam fahren musste, benoetigte ich noch fast eine Dreiviertelstunde, um La Ciotat zu erreichen - er waere natuerlich in der Haelfte der Zeit angekommen. Strassen wie diese erweckten den Rallye-Fahrer in ihm... |