Die folgende Geschichte handelt
von Blumen, von Menschen, von Tieren und von allem anderen was das Leben
lebenswert macht, also auch vom Essen, vom Trinken und natürlich auch
von der Liebe, jedenfalls von der in ihrer besten Form. Wir könnten
die Geschichte mit "es war einmal" beginnen lassen, denn sie ist ein Märchen
aus wirklich sehr lange vergangenen Zeiten. Du müßtest schon
wenigstens Deine Großmutter fragen, ob die vielleicht von ihrer Großmutter
einmal eine ähnliche Geschichte gehört hat, die diese wiederum
von ihrer Großmutter, die diese wiederum von ihrer Großmutter....
Kurz gesagt, die Zeit von der ich Dir erzählen will, liegt unendlich
lange zurück. Der einführenden Worte sollten nun genug gesprochen
sein und die Geschichte endlich beginnen.
Sie beginnt in dieser schon fast vergessenen Zeit in einem dichten, dunklen Wald, der sich über einige kleine Hügel erstreckt, weshalb ihm die Menschen dieser Zeit den Namen "Wellenwald, der sich über fünf Hügel zieht" gegeben hatten. Die Tiere nannten ihn "Wald". In diesem Wald, wir wollen hier der Einfachheit halber den Tiernamen gebrauchen, lebte eine Vielzahl von Bäumen in recht großer Eintracht zusammen. Es gab da, um die mächtigsten zuerst zu nennen, die riesigen Eichen, deren Wipfel fast die Sonne zu berühren schienen und die sich nachts mit dem Mond und den Sternen unterhalten konnten. Es gab natürlich auch kleinere Bäume wie Birken, Pappeln, Föhren und was Mutter-Natur sonst noch alles an Kreativität gelungen ist. Es gab schlanke Bäume, die so hoch gewachsen waren, daß sie von der Größe her fast für Eichen gehalten werden konnten, wären sie nicht so schlank gewesen. Es gab untersetzte Bäume. Es gab solche, die, um an den größeren Bäumen vorbei auch etwas Sonnenlicht zu erhaschen, krumm gewachsen waren, es gab junge, es gab alte Bäume und es gab damals auch Baumjungen und Baummädchen, was die Menschen heute allerdings vielleicht nur nicht mehr erkennen. Zwischen den Bäumen, also zu ihren Füßen, wuchsen noch eine ganze Reihe anderer Pflanzen, die ebenso wie die Bäume in ihrer Art, ihrem Wesen, ihrer Länge, Breite und Geschlecht nach völlig verschieden voneinander waren. Und zwischen diesen Pflanzen wiederum bewegte sich eine ebenso große Zahl völlig verschiedener Tiere. Und über diesen Pflanzen wiederum, also immer noch zwischen den Bäumen, flogen eine Unzahl der verschiedensten Vögel und Insekten ihrem Tagwerk nach. Und über den Bäumen, im Grunde schon zwischen den Sternen, gab es noch größere, noch schönere und noch stolzere Himmelsbewohner, die nur selten in die unteren Schichten der Welt, wie sie es nannten, eindrangen, um sich dort von anderen Tieren und Pflanzen bewundern zu lassen. Auch wenn sich aufgrund bestimmter Merkmale Familien bilden ließen (so zählte eben eine Gruppe der Bäume aufgrund ihrer Größe zur Familie der Eichen) waren doch alle Lebewesen voneinander völlig verschieden und daher auch unterscheidbar. Sie hatten auch jedes für sich einen Namen, der aus dem Familiennamen, also, um bei dem Beispiel zu bleiben, Eiche und einem Vornamen, zum Beispiel Karl, bestand. Diese Familien lebten im allgemeinen zusammen, insbesondere bei den Bäumen waren die Familienbande stark ausgeprägt, da sie auch damals schon größere Schwierigkeiten als die anderen Lebewesen mit der Fortbewegung hatten und daher lieber unter sich blieben. Die anderen hingegen waren äußerst mobil und bildeten unentwegt neue Familien mit neuen Nachnamen und Vornamen und voneinander völlig verschiedenen Kindern. Kurz gesagt es war ein einziges Chaos. So dachten zwar nicht die Tiere und Pflanzen des Waldes, aber die Menschen des nahegelegenen Ortes, denen schon damals ein gewisser Hang zur Uniformität zueigen war. In diesem Ort, unter diesen sich schon ziemlich ähnlich und immer ähnlicher werdenden Menschen gab es einen besonders unerbittlichen Verfechter der absoluten Gleichheit aller Menschen und auch aller anderen Lebewesen, wie er es sich insgeheim in seinen kühnsten Träumen ausmalte. Ich nehme an, er hieß Müller, Meier oder Schmidt. Der Name tut hier auch nichts zur Sache. Nun ist diese absolute Gleichheit der Menschen heute, in unserer Zeit eine durchaus ehrenwerte Forderung und man könnte sich daher wundern, warum sich dieser Müller, Meier oder Schmidt im folgenden als eher unangenehmer Zeitgenosse herausstellt. Du mußt das ganze aber nicht im heutigen Lichte sondern im helleren Licht dieser vergangenen Zeit sehen. Heute ist alles und sind alle gleich. Der Ruf nach Gleichheit aller und jeder Sache hat seinen Schrecken verloren. Aber damals, als die Tendenzen, jedem seine Eigenheit zu nehmen erst in den Kinderschuhen steckten, ging man mit dem Begriff "Gleichheit" noch weniger freizügig um. Zurück zu den Bäumen und hier zu den Eichen und hier zu Karl, den ich schon einmal kurz erwähnte. Karl Eiche war ein besonders riesiger Vertreter seiner Familie und daher auch zum Oberhaupt der Familie Eiche gewählt. Er war so riesengroß, daß ihn viele bereits in diesen Tagen Karl den Großen nannten, ein Name der in späteren Zeiten in anderem Zusammenhang wieder auftauchen sollte, aber davon vielleicht mehr in einer anderen Geschichte. Karl war nicht nur unglaublich groß, er war auch sehr, sehr alt und hatte Zeiten gesehen, an die wir uns heute nicht einmal unter Zuhilfenahme aller unserer vorangegangenen Großmütter erinnern können. Karl pflegte nicht mehr viel zu sprechen: "Die Zeiten, in denen ich große Reden hielt sind vorbei, meine Freunde", pflegte er in den wenigen und immer weniger werdenden Momenten der Redseligkeit zu sagen, "aber laßt mich euch trotzdem eine Geschichte aus den vergangenen Tagen erzählen", fuhr er dann meistens fort und zu seinen mächtigen, knorrigen Wurzeln versammelten sich die anderen Tiere und die, wie schon gesagt, etwas unbeweglicheren Bäume und Pflanzen reckten und streckten ihre Blätter, um ja kein Wort von Karls Erzählung zu verpassen. Diese Geschichten Karls sind nach den heutigen Gepflogenheiten unserer hektischen, schnellebigen Zeit wohl zu langatmig, ja langweilig und ich will sie daher nicht im einzelnen wiedergeben, sondern mich darauf beschränken, Dir zu sagen, daß es sich um stundenlange Beschreibungen von Landschaften handelte (in Karls Jugendtagen waren die Bäume noch so beweglich wie alle anderen Lebewesen und Karl hatte viel gesehen) und um Berichte von großen Festen, denn Karl liebte gutes Essen und Trinken. Allen anderen wurde es bei diesen Erzählungen nie langweilig, denn ihnen ging sie noch ab, die große Hektik unserer Tage. Und so saßen sie zusammen lauschten den Worten des großen, alten Baums, lachten zusammen und weinten auch manchmal zusammen, denn Karl wußte auch viele traurige, rührende Geschichten zu erzählen. Es kam natürlich, wie es kommen mußte: Den Menschen und hier wieder besonders unserem Fürst der Gleichheit mit dem Namen der ewig Gleichen mißfiel die Eintracht des Waldes. Und so machte sich eines Tages Herr Müller, im heutigen Amerika würde er vielleicht Miller oder Smith heißen, auf, um diesem unterträglichen Chaos endlich den Frieden der allgemeinen Unterschiedslosigkleit zu bringen. Wohl wissend, daß die Stimme Karls der Eiche besonderes Gewicht unter den Bewohnern des Waldes hatte, wandte er sich an ihn. Er schmeichelte ihm geschickt, hob seine hervorragende Rolle als ältester, weisester, weitestgereister, erfahrenster Baum hervor. Er nannte ihn den Herrscher des Waldes, den Großmogul der Bäume, den König der fünf Hügel und was ihm sonst noch an Schleimereien in den Sinn kam. Karl, wohl im Alter schon etwas senil geworden, ließ sich tatsächlich einwickeln und schöpfte keinen allzu großen Verdacht, als dieses Menschlein zum Schluß seiner wohl drei oder vier Tage dauernden Ansprache, nur unterbrochen von zwei kurzen Nickerchen in Karls Schatten, mit dem Vorschlag herauskam, warum nicht die Familie der Eichen die Macht im Wald übernehmen sollte. Sie seien doch offensichtlich die größten der Bäume und mit Karls Intelligenz und Erfahrung sowie der Hilfe der Menschen müßte es doch ein leichtes sein, den anderen Waldbewohnern ihre lästige Eigenständigkeit auszutreiben und sie alle unter der Eichenführung zu einen und einander anzugleichen, so, daß zum Schluß dieser Befriedung des Chaos nur noch ein mächtiges Heer von Eichen oder zumindest eichenähnlichen Geschöpfen den Wald bewohnen würde. Mit diesen Worten verabschiedete sich der Gast von Karl, ließ den Samen des Zweifels in ihm zurück und ging seiner Wege. Diese Wege führten ihn direkt zu einigen Angehörigen der Familie der Birken. Er klopfte ihnen sanft an die weiße Rinde und begann auch hier eine ähnliche Rede. Nur sollten hier die Birken zur einflußreichsten Waldfamilie aufsteigen. Ärgerten sie sich etwa nicht, daß ihnen die riesigen Eichen das Licht der Sonne verdunkelten? Waren diese Eichen und hier besonders Karl nicht etwa ein Überbleibsel längst vergangener Zeiten, nicht fähig, den Geist der neuen, besseren Zeit zu erfassen? Auch die Birken zeigten sich nach anfänglicher Skepsis nicht unbeeindruckt von den Worten dieses es offensichtlich so gut mit ihnen meinenden Menschen. Ähnlich verfuhr er in den darauffolgenden Tagen mit allen Familien des Waldes. Und als er in sein Dorf heimkehrte, war er sich sicher, etwas Großes geschaffen, eine gewaltige Veränderung bewirkt und einen riesigen Stein ins Rollen gebracht zu haben. Und tatsächlich, als Karl wieder einmal in redseliger Stimmung alle Familien zu seinen Wurzeln um sich geschart hatte, da verlief dieses Zusammentreffen anders als alle bisher. Weder sprach Karl von den vergangenen Zeiten, noch lauschten ihm die enderen hingebungsvoll. Es kam zu Tumulten. Karl schrie von einer neuen Zeit, die kommen müsse, einer Revolution, die sich abzeichne und die nur dann überstanden werden könne, wenn die Eichen die Führung übernehmen würden. Von Ferne hörte man die Birken nach mehr Licht, Sonne und Luft verlangen, die Füchse bissen die Wölfe (beides damals noch Pflanzenfresser) und die Raben hackten nach den Adlern. Kurzum, alle Familien waren nach diesem Treffen bitter verfeindet und trennten sich unter gegenseitigem Verfluchen und Beschimpfungen. Das Zusammenleben hatte ein Ende, die Frettchen verbannten die Kinder, die aus bisher glücklichen Ehen zwischen Frettchen und Hasen oder Tauben oder anderen Familien entstanden waren. Kinder denunzierten ihre Eltern bei den hastig gewählten Familienoberhäuptern, Frauen schlugen ihre Männer, die Männer ihre Söhne und die Töchter ihre Mütter. Der einst so friedliche Wald glich einem Inferno. Während sich die Waldbewohner derart bekriegten, bereiteten sich die Menschen unter der Führung unseres Herrn Gleichmachers darauf vor, dem Wald ihre Art des Friedens zu bringen. Alles sollte wunderbar gleich werden, das Chaos der Verschiedenartigkeit endlich mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden. Und so bewaffneten sie sich mit Sägen, Beilen und Messern und pirschten sich langsam von allen Seiten an die fünf Hügel und den sich über sie erstreckenden Wald mit seinen vielen einstmals einträchtig zusammenlebenden Familien heran. Heute erstreckt sich über die fünf Hügel eine wunderbare Gleichförmigkeit. Es gibt dort nichts mehr, das sich von allem anderen unterscheidet, nichts mehr, das nicht wie ein Ei dem anderen gleicht, eben überhaupt nichts mehr. Karl wurde auf dem Versammlungsplatz der Menschen anläßlich einer Siegesfeier verfeuert. Aus den anderen Bäumen bauten sie sich Häuser, größer, schöner und gleicher als die alten und die anderen Tiere und Pflanzen aßen sie auf, brieten sie an dem durch Karl entfachten Lagerfeuer der Menschen. "Du Karl." "Hm, hm, was denn, was gibt's, ist was geschehen?" stammelte Karl als ihn seine jüngste Enkeltochter sanft aus seinem schrecklichen Alptraum aufweckte. "Du Karl, da ist ein Mensch und will Dich sprechen. Er sagt, es sei von äußerster Wichtigkeit. Du wüßtest schon warum." "Schick ihn zum Teufel", brummte Karl und schlief wieder ein. |