„Träum nicht!“ pflegten
meine Eltern zu mir zu sagen, wenn sie mich wieder dabei erwischten, irgendwo
Löcher in die Luft zu gucken, anstatt den Rasen zu mähen, oder
sonst etwas Nützliches zu machen. „Träum nicht!“ sagten meine
Lehrer, wenn ich mal wieder aus dem Fenster des Klassenzimmers in den Himmel
starrte, anstatt die an mich gerichtete Frage zu beantworten, was ich meistens
sowieso nicht konnte. „Träum nicht!“ ruft meine Frau bei jeder Gelegenheit,
ob es nun beim Einkauf ist, wenn ich mitten im Laden stehenbleibe und einen
anscheinend unheimlich interessanten Punkt weit hinter der Decke des Raumes
betrachte. Oder beim Spaziergang am Wochenende, wenn der Hund schon wie
verrückt an der Leine zerrt, und ich in den Anblick einiger herbstlicher
Blätter völlig versunken bin, die am Boden vom Wind durcheinandergewirbelt
werden.“Träum nicht!“ habe ich jetzt schon so oft in meinem Leben
gehört, das ich es langsam nicht mehr hören kann.
Ich bin jetzt mitte vierzig,
habe einen festen Job; zugegeben, keinen in dem ich reich, geschweige denn
berühmt werden kann. Aber es ist eine Tätigkeit, die den Geist
nicht allzusehr fordert, so daß mir zwischendurch noch genug Zeit
bleibt. Wozu? Zum träumen, wozu sonst?
Verheiratet bin ich auch,
und wir haben eine Tochter, die allmählich selbständig wird und
mich als das betrachtet, was ich in den Augen vieler bin: ein Spinner.
Meine Frau leidet sehr darunter, das ich die angeblich so vielfältigen
Aufstiegsmöglichkeiten in meinem Beruf nicht genutzt habe. Es hat
sie nie gegeben, außer in ihrer Phantasie.
Aber so bin ich nun mal. Viele
behaupten, ich hätte ein gestörtes Verhältnis zur Realität,
aber das ist nicht wahr. Ich lebe ein ganz normales Leben, habe genug Freunde,
bin kein Einzelgänger und voll in die Nachbarschaft integriert. Ich
träume halt nur gerne. Und das auch mitten am Tage.
So wie jetzt zum Beispiel.
Es ist kurz vor sechzehn Uhr, meiner normalen Feierabendzeit. Die Arbeit
für heute ist erledigt, der Computer schon aus und die ganzen wichtigen
Briefe in der Post. Der Stapel mit den Sachen, die ich nicht geschafft
habe ist auch nicht mehr so hoch, und ich kann mir noch eine Zigarette
am offenen Fenster anzünden. Mein Vorgesetzter ist Nichtraucher, und
er sieht es überhaupt nicht gerne, wenn in den Büros geraucht
wird. Worüber ich mich zusammen mit gut siebzig Prozent der Abteilung
stillschweigend hinwegsetze. Die Flamme des Feuerzeuges schnellt vor und
bringt die Zigarettenspitze zum Glühen. Fünf Minuten abschalten,
die Gedanken treiben lassen und den hektischen Schnellzug des Alltages
mit einem Passagier weniger fahren lassen. Ich mag das einfach, mal an
nichts denken. Den Gedanken Spielraum lassen, sie treiben wie kleine Boote
umher und haben ihr Eigenleben. Meistens kommt da nichts bei raus, aber
manchmal sind es auch richtig gute Ideen, allerdings sind diese wirklich
dünn gesät.
Heute ist ein schöner,
aber noch ziemlich kalter Frühlingstag, die Luft ist so klar und frisch,
wie sie für eine Großstadt nur sein kann. Mein Bürofenster
geht auf eine der Hauptverkehrsstraßen dieser Stadt, also bekomme
ich schon meinen Teil der Abgase ab. Aber heute ist es sehr angenehm, eine
kühle Brise weht mir ins Gesicht und treibt den Rauch der Zigarette
in Richtung Bürotür. Wenn der Chef jetzt hereinkommt, nützt
kein Leugnen, er wird die volle Ladung direkt in die Nase bekommen. Aber
egal, so ein Nachmittag will genutzt werden, und fängt am besten mit
einer Feierabendzigarette an.
Leider ist die Aussicht aus
dem Bürofenster nicht gerade für eine Postkarte geeignet, aber
ich habe mir in der langen Zeit, in der ich hier schon arbeite angewöhnt,
die Hochhäuser und Geschäfte, die leider das Hauptmotiv stellen,
einfach auszublenden. Mein Fenster ist im dreizehnten Stockwerk, da hat
man schon eine ganz gute Aussicht, und über dem Antennenwald auf dem
Dach des gegenüberliegenden Gebäudes kann ich bei gutem Wetter
die Berge dahinter sehen.
Und heute ist genau das richtige
Wetter. Über den blaßblauen Himmel werden Wolkenfetzen gejagt,
die wie Watte aussehen. Die Sonne scheint in einem etwas dunstigen Licht,
und das erste zaghafte Grün des Frühlings zeichnet sich auf den
Wäldern an den Bergen ab. Wie müßte es jetzt sein,
durch diesen gerade erwachenden Wald zu schlendern, der Boden noch naß
und morastig, aber überall schon erste Knospen an den Bäumen.
Grün verdrängt allmählich das dunkle Braun des Winters,
und einige wilde Krokusse geben fröhliche Farbtupfer dazu. Sogar die
Tannen, die im Winter wie dunkle Gespenster ausgesehen haben, scheinen
sich jetzt wieder ein freundlicheres Kleid zugelegt zu haben.
Während ich noch in Gedanken
durch den Wald laufe, scheint sich das Panorama vor meinem Fenster ein
wenig zu verändern. Es ist eine merkwürdige Art der Wahrnehmung,
ich sehe diese Veränderung zwar, aber nehme sie doch nicht so richtig
wahr, denn ich bin in Gedanken ja ganz woanders. Trotzdem setzt sich die
Änderung beharrlich fort. Die Hochhäuser verblassen langsam und
sehen mehr und mehr zweidimensional aus, fast wie eine Photographie. Das
ganze gewohnte Bild, welches ich jeden Tag sehe, wirkt immer flacher, unwirklicher.
Darüber schiebt sich eine ganz andere Ansicht, viel realer und farbiger,
mit mehr Tiefe. Keine Häuser mehr, sondern ein sanft abfallender Hügel,
der etwa zweihundert Meter weiter an einer Steilküste endet, die sich
in weitem Bogen nach rechts und links windet. Dahinter ist das Meer, endlos
weit bis zum Horizont und glitzernd im Sonnenlicht. Der Himmel hat fast
das gleiche blasse Blau wie vorher, nur die Wolken sind größer
und dichter.Da die andere Welt allmählich nur noch als blasser Schemen
unter dieser neuen Landschaft zu erkennen ist, betrachte ich jetzt ohne
jedes Erstaunen die hügeligen Wiesen vor meinem Fenster. Das Gras
ist erstaunlich lang, und wiegt sich im kühlen Wind, anscheinend wird
es hier auch gerade Frühling.
Es kommt mir merkwürdig
bekannt vor, dieses Land. Vielleicht bin ich schon mal hier gewesen, aber
genau weiß ich es nicht. Obwohl ich mich meine, erinnern zu können,
besonders an das Meer und diese frische, würzige Luft.
Fast wie von selbst gleitet
meine Hand in die Tasche vom Jackett und holt die Zigarettenschachtel hervor.
Aber, muß ich denn jetzt wirklich rauchen? Die Luft ist eigentlich
viel zu schade, um sie mit dem Qualm zu verunreinigen, also stecke ich
die Schachtel wieder zurück und ziehe das Jackett gleich aus. Führe
mich nicht in Versuchung....
Der Wind hat allmählich
aufgefrischt, und ich bin immer noch nicht ganz darüber hinweg, das
eben noch ein bodenloser Abgrung von dreizehn Stockwerken unter meinem
Fenster war, und jetzt eine Wiese, wo ich mit den Füßen das
Gras berühren könnte, wenn ich mich auf das Fensterbrett setzte.
Soll ich? Ein schneller Blick nach hinten zeigt mir, das dort immer noch
mein Büro ist, ganz vertraute zwölf Quadratmeter, vollgestellt
mit Schränken voller Aktenordnern, einem kleinen Schreibtisch, und
dem Computer, der den meisten Platz darauf beansprucht. Vor mir liegt ein
vollkommen unbekanntes Land, das vor ein paar Minuten noch gar nicht da
war.
Kann man denn so intensiv
träumen? Merkwürdig, aber dieses Welt da draußen ist wirklich
sehr real. Ich ziehe mich erstmal vom Fenster zurück und setze mich
wieder an den Schreibtisch. Die Landschaft bleibt.
Ich schalte den Rechner ein,
und schaue nach, ob der immer noch das gleiche anzeigt, wie vorhin. Der
Rechner fährt hoch, und das vertraute Hintergrundbild, eine Meile
Strand auf Mauritius, erscheint. Ich probiere das Tabellenprogramm und
es arbeitet ganz normal. Die Landschaft draußen ist immer noch
da. Jetzt brauche ich doch noch eine Zigarette. Das Jackett liegt quer
überm Schreibtisch, also hab ich es nicht so weit und zehn Sekunden
später sehe ich dem blauen Rauch hinterher, der sich kräuselnd
in Richtung Decke zieht. Ein gelegentlicher Blick zum Fenster zeigt mir,
das die Welt draußen immer noch unverändert hügelig und
grün ist. Wenn ich jetzt zur Bürotür hinausgehe, mit dem
Fahrstuhl dreizehn Stockwerke nach unten fahre, und dort das Gebäude
verlasse, was finde ich dann vor? Felsen vielleicht, eine undurchdringliche
Wand aus Steinen und Erde, die direkt vor der Tür beginnt. Oder die
ganz normale Hauptstraße mit ihrem üblichen Feierabendverkehr?
Schwer zu sagen, ich möchte es auch nicht ausprobieren, denn die Angst,
das dann diese wunderschöne Landschaft hier vor meinem Fenster verschwunden
ist, ist einfach zu groß. In Ermangelung eines Aschenbechers
nehme ich mal die Kaffeetasse. Das ist zwar nicht sehr appetitlich, aber
ich wasche sie dann nachher in der kleinen Küche auf dem Flur auch
selbst ab, versprochen. Was mich aber am meisten beschäftigt, ist
die Frage, woher ich dieses Land nur kenne. Und bekannt ist es mir, da
bin ich mir sicher. Wann war ich denn bloß hier? Irgendwie hat die
Landschaft eine Ausstrahlung, der man sich nur schwer entziehen kann, und
dieses Gefühl kommt mir doch sehr bekannt vor.
Ich trete noch einmal ans
Fenster. Die Wiese ist immer noch da, und wiegt sich tiefgrün im Wind,
ein paar Büsche, die ich vorhin nicht bemerkt hatte rascheln leise
dazu und ein kleiner bunter Schmetterling kämpft in der Brise um seine
Balance. Fasziniert schaue ich dem Falter zu, wie er immer taumelnd ein
kleines Stück fortgeweht wird, und sich in den windstillen Pausen
wieder unverdrossen vorarbeitet. Zögernd versuche ich mal, mich aus
dem Fenster zu beugen, und das Gras zu berühren. Ich muß mich
ganz schön lang machen, aber es fühlt sich wunderbar kühl
an. Und sehr real. Bei diese Übung bemerke ich aus dem Augenwinkel
eine Bewegung. Es ist der Schmetterling, der seinen Kampf gegen den Wind
verloren hat, und nun auf meinem Hemdsärmel notgelandet ist. Da sitzt
er und weiß wohl nicht genau, was er mit dem neuen Landeplatz anfangen
soll. Zuerst einmal klappt er die Flügel nach oben zusammen und beschließt,
sitzen zu bleiben. Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, richte mich
wieder auf und berühre ihn sachte mit dem Zeigefinger. Er nimmt es
gelassen und bleibt sitzen.
Für mich war es fast
eine Offenbarung, denn das Tier ist real, ein wirklicher Schmetterling
aus einer Traumlandschaft. Etwas farbenfroher, als hierzulande üblich,
aber real. Das Gras unterm Fenster ist es auch, und es würde mich
nicht wundern, wenn die ganze Wiese da draußen genauso wirklich
wäre, inklusive Klippen und Meer und allem.
Da sehe ich eine Bewegung
weiter unten am Hügel hinter ein paar Büschen. Etwas dunkelrotes
bewegt sich dort, es könnte fast ein Stück Stoff sein, zumindest
sieht es so aus. Es bewegt sich wieder ein wenig, flattert mit dem Wind.
Dann klingt auf einmal ein glockenhelles Lachen zu mir herauf. Und in diesem
Moment weiß ich genau, das ich dieses Land kenne, denn dieses Lachen
ist mir so vertraut wie meine rechte Hand. Es ist so unbeschwert und voller
Fröhlichkeit, das man automatisch lächeln muß, wenn man
es nur hört. Selten habe ich so ein melodisches Lachen gehört,
und wenn ich es hörte, dann nur hier. Die Person, zu der das Lachen
paßt, lebt auch hier. Sie war bisher nur ein Traumbild für mich,
und immer nur flüchtig zu sehen. Das heißt, nicht immer. Einmal
war sie mir sehr nahe, nicht auf dieser Wiesenlandschaft, sondern auf einem
felsigen Terrain unter einer heißen Sonne, die gnadenlos auf alles
niederbrannte. Wie ich dahin gekommen war, weiß ich nicht mehr, auf
einmal stand ich dort inmitten von Geröll und wurde im wahrsten Sinne
des Wortes gegrillt. Da kam sie mir entgegen, eingehüllt in ein Gewand,
wie es die Beduinen tragen. Nur die Augen waren frei, und die waren zu
meinem großen Erstaunen blaugrau. Sie kam hinter einem Felsen hervor
und direkt auf mich zu. Als sie mir gegenüberstand, schaute sie mir
forschend ins Gesicht, bestimmt ein paar Minuten lang. Ich konnte nichts
sagen, oder mich gar bewegen. Wie angenagelt stand ich da, während
mir der Schweiß in Strömen übers Gesicht lief. Dann berührte
sie mich flüchtig mit der Hand, drehte sich um und ging wieder weg.
Im selben Moment löste sich die Wüstenlandschaft auch auf, und
wurde wieder zu unserem Garten hinterm Haus, wo der Rasensprenger mich
gleichmäßig mit Wasser durchtränkte. Soviel zum Thema
schwitzen, meine Frau bedachte mich mit einem mitleidigen Blick, und ging
wieder ins Haus.
Aber heute scheint das anders
zu sein. Ich glaube, das ich sie heute wohl etwas länger sehen werde,
denn die Umstände sind außergewöhnlicher als sonst. Und
da kommt sie auch schon. Groß ist sie, und schlank. Gekleidet in
ein schlichtes weinrotes Kleid, barfuß und mit federnden Schritten.
Noch kann ich ihr Gesicht nicht richtig erkennen, aber sie ist nicht mehr
weit. Auf einmal werde ich mir meiner Arbeitskleidung bewußt: weißes
Hemd, gerade mal heute mit Schmetterling, dunkle Krawatte, dunkles Jackett,
dunkle Hose und auf Hochglanz polierte Lederschuhe. Wie sich wohl das Gras
dort draußen anfühlen mag? Lachend nehme ich die Krawatte ab,
den alten Kulturstrick werde ich wohl da draußen nicht brauchen,
und ziehe Schuhe und Strümpfe aus. Ehe ich mir darüber richtig
klar bin, sitze ich auch schon rittlings auf dem Fensterbrett und lasse
die Beine nach draußen baumeln. Sie ist jetzt schon ziemlich nahe
gekommen, und ich kann sie besser sehen. Sie hat ein ovales Gesicht, mit
hohen Wangenknochen und einer ausgeprägten Nase. Der etwas strenge
Eindruck wird aber wieder durch die großen, gütigen Augen und
den vollen Mund gemildert. Die Jahre haben schon Spuren in diesem Gesicht
hinterlassen, sie ist eindeutig keine zwanzig mehr, aber das bin ich ja
auch nicht. Das lange dunkelbraune Haar ist einfach im Nacken mit einem
roten Band zusammengehalten und fällt glatt den Rücken herunter.
Die Sonne zaubert goldene Reflexe darauf und bringt die kleine Kreole an
ihrem rechten Ohr zum Glitzern. Ihr Körper ist schlank, schon eher
zierlich und sie hat sehr schöne, filigrane Hände. Ich mag sie,
obwohl ich sie das erste Mal heute gesehen habe. Das scheint sie gespürt
zu haben, denn sie lächelt mich an und bei diesem Lächeln leuchtet
ihr ganzes Gesicht auf.
Lächelnd kommt sie auf
mich zu und nimmt meine Hand. Ein letztes Zögern: was wird wirklich
passieren, wenn ich jetzt von diesem Fensterbrett herunterspringe? Werde
ich an der Hand dieser Frau auf einer Wiese im Frühling stehen, oder
werde ich an der Hand eines Trugbildes dreizehn Stockwerke tief in den
Abgrund fallen? Sie scheint dieses Zögern zu verstehen und läßt
meine Hand los, um mir etwas Zeit zum Nachdenken zu geben. Ich will aber
gar nicht, das sie losläßt, denn die Berührung war schön,
so warm und zart. Und trotzdem zögere ich immer noch. Ist das jetzt
eine sehr realistische Halluzination, oder tatsächlich eine andere
Welt? Werde ich mich jetzt mit einem kleinen Schritt in den Tod stürzen,
oder ist das die Chance, auf die ich insgeheim schon mein Leben lang gewartet
habe, eine Welt aus einem Traum? Und wenn das so ist, was werden dann meine
Frau und das Kind sagen, wenn ich auf einmal nicht mehr da bin? Wer wird
sie versorgen, wovon sollen sie leben? Sie scheint diese Zweifel
in meinem Gesicht zu lesen, und schaut mich traurig und ein wenig ängstlich
an. Werde ich es diesmal schaffen?
Den Ausschlag gibt eigentlich
mein Chef. Denn in diesem Moment geht hinter mir die Bürotür
auf, und er kommt herein mit einem Gesichtsausdruck, den ich nur zu gut
kenne. Das heißt nicht nur dicke Luft, da zieht ein richtiges Gewitter
auf. Ich weiß nicht, was er jetzt sieht, vielleicht einen Mann, der
sich mit ernsthaften Selbstmordabsichten trägt, aber ich stoße
mich vom Fensterbrett ab und nach draußen.
Ich sehe mich fallen, endlos
lang und immer schneller werdend, der Wind reißt mir einen atemlosen
Schrei von den Lippen, der hinter mir in der Luft verhallt: Meine einzige
Hinterlassenschaft wird eine Lebensversicherung und ein großer Fleck
auf der Straße sein.
Aber der Aufprall ist nicht
halb so schlimm wie erwartet, und findet auf weichem Gras statt. Wie man
sich doch verschätzen kann, das Fensterbrett befindet sich erstaunlicherweise
etwa anderthalb Meter über dem Boden. Direkt darunter ist ein kleiner
Hügel, der etwa einen meter hoch ist, deshalb kam ich an das Gras
heran. Diesen Hügel habe ich glatt übersprungen, und so noch
genug Zeit gehabt, mir die Horrorvision auszumalen. Mein Chef steht
jetzt am Fenster, beugt sich hinaus und schaut nach unten. Was er da wohl
sehen mag? Wenn ich nach unten schaue, sehe ich grünes Gras, Erde
darunter und eine Hummel, die auf der Suche nach Blüten ist. Es ist
ein merkwürdiges Bild, ein Fenster steht allein in der Luft, mit nichts
darunter oder darüber, keine Wand, nichts. Aber es wird schon blasser
und ist bestimmt gleich ganz verschwunden. Mir ist es auch egal.
Da berührt mich eine Hand
an der Schulter. „Schön, das du es geschafft hast “ sagt sie und hilft
mir auf die Beine, „ich war mir nicht ganz sicher.“ „Ich mir auch nicht,“
gestehe ich verlegen grinsend, „aber mit diesem Choleriker hätte ich
wirklich nicht leben können, weißt du?“ Sie lacht wieder ihr
glockenhelles Lachen. „Komm mit“ sagt sie und zieht mich an der Hand. Ich
bleibe stehen, nutze ihren Schwung, um sie in meine Arme zu ziehen und
gebe ihr einen Kuß. Sie ist erst erstaunt, erwidert ihn dann aber.
„Machst du das immer so?“ fragt sie etwas außer Atem. Da muß
ich nachdenken. „Nein, eigentlich nie....“ Sie lacht, „na dann komm jetzt
endlich“.
Ein letzter Blick auf das
Fenster, welches inzwischen nur noch eine blasse Silhouette ist, zeigt
meinen Boß aufgeregt fuchtelnd, und einige Kollegen, die sich dahinter
drängen. Schade, einige von Euch werde ich vermissen, aber die meisten
nicht, wirklich nicht. Ich drehe mich um, und laufe dem schlanken Rücken
im weinroten Kleid hinterher, der schon einigen Vorsprung hat.
©
Cord
Althaus
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