Charly befand sich auf der
neuen Raumstation Freedom. Diese umkreiste die Erde in sechsunddreißigtausend
Kilometern Entfernung. Sie war damit geostationär. Das heißt,
die Station befand sich immer über dem selben Punkt der Erde. Sie
diente als Sprungbrett für die Linienflüge zu den Planetenstationen.
Aber diese Station war auch für den Tourismus bestimmt und wurde jetzt
vergrößert, um noch mehr Reisende in den Außenbezirken,
wo die künstliche Schwerkraft aufgrund der Rotation der Station am
größten war, unterzubringen. Als man mit den Arbeiten begann,
brauchte man sehr bald wesentlich mehr Raumanzug-Erfahrene, als geplant
war. Und so ließ sich Charly anwerben. Er war mit seiner Frau, einem
sehr schlanken, großgewachsenen, blonden und energischem Wesen hier
herauf gekommen.
Er hatte heute Spätschicht
und furchtbare Magenprobleme. Alle Raumfahrer hatten Magen- und Darmprobleme,
doch Charly litt heute Höllenqualen. Er strich sich nervös, im
Wartezimmer der Stationsärztlichen Abteilung auf und ab laufend, durch
sein braunes Haar und blickte ein Foto der Station an. Sein Gesicht spiegelte
sich im Rahmen des Fotos. Charly sah sich tief in die blauen Augen und
erschrak. Diese waren ganz glasig und trüb. 'Verflucht! Wann komme
ich denn endlich dran!', dachte er.
Da ging die Tür des Arztes
auf und eine junge Frau in einem weißen Kittel kam heran und sprach
: "Charles Kittley?".
Charly rannte herbei und rief:
" Na endlich! Wo ist denn der Doc?".
Die Frau drehte sich um: "Na
hier! Ich bin ihr Arzt!".
Charly war nur einen kurzen
Moment überrascht. Doch nach einem Augenblick fing er an eilig sein
Problem zu schildern.
Die junge Ärztin gab
ihm einen Magentrunk und verschrieb ihm noch ein Medikament, welches er
zehn Tage zu nehmen hatte. Nach dem Getränk ging es Charly schon besser.
Er verließ die stationsärztliche Abteilung und ging zum nächsten
Lift, um zu seinem Wohnblock in den Außenbezirk der Station
zu fahren.
Die Station hatte im Laufe
der Umbauarbeiten gewaltig an Ausmaßen zugenommen.
Noch im Jahr 1999, als man
die erste Station fertigstellte, maß ihr Durchmesser zweihundert
Meter. Aufgrund der Reiselust der Menschen war sie jetzt auf zwei Kilometer
angewachsen und wuchs täglich weiter. Wohndeck an Wohndeck wurde von
innen nach außen aufgestockt. Sechshundert Astro-Schweißer
arbeiteten rund um die Uhr in Wechselschicht an der Station. Astro-Schweißer
war die Kurzform für Raumdruckanzugschweißer im Weltraum!
Charly war einer der Astro-Schweißer.
Als der Lift am Deck vierundsechzig
stoppte, stieg Charly aus und ging den gewölbten Flur entlang nach
Hause. Er hatte gerade die vorletzte Abzweigung hinter sich gelassen, da
konnte er schon seine Schleuse, Schleuse 14, sehen.
Er wollte gerade seinen Schritt
beschleunigen, da ging die Tür seines Wohnmodules auf und ein Mann
mit strohblondem Haar trat heraus. Gefolgt von seiner Frau.
Charly blieb abrupt stehen,
und eine innere Stimme sagte ihm, er solle sich in der nächsten Abzweigung
verstecken. Er sprang mit einem Satz in den nächsten Flur und beobachtete
von dort, was jetzt wohl noch alles folgte.
Gerade küßte seine
Frau den Typen, wie man eigentlich nur seinen Mann küßte, dachte
Charly. Eine riesenhafte Wut stieg in ihm empor und verschlimmerte damit
seine Magen+Darmprobleme. Er krümmte sich vor Schmerzen.
Charly wandte sich um und
ging Richtung Einkaufzentrum, um sich sein Medikament zu besorgen. Jedes
-Stockwerk- hatte sein eigenes Einkaufzentrum. So hatte Charly es nicht
weit. Als er endlich seine Medizin in den Händen hielt, riß
er hektisch die Packung auf und nahm gleich zwei Tabletten auf einmal.
Augenblicklich verschwanden seine Beschwerden. Er rannte zurück.
Zu Hause angekommen, wollte
er schon voller Wut seine Schleuse aufschließen, da dachte er bei
sich: 'Wenn, bekommt meine Frau Wind von der Sache, da ich sonst immer
geklingelt habe!'. er drückte den Klingelknopf.
Ein blonder Wuschelkopf öffnete
die Tür und blickte überrascht :'Du bist ja schon da? Was ist
denn los?'.
Charly krümmte sich und
sprach : "Oh Mann, ich habe wieder furchtbare Krämpfe!".
"Komm rein! Ich mach dir was
Leichtes zu Essen, und dann gehst Du Marsch ins Bett!". Und Charly gehorchte
und folgte seiner Frau in den Wohnkomplex.
Sie saß ihm beim Essen
wie immer direkt gegenüber, und bemerkte seine tiefe innere Versunkenheit.
"Charly? Charly? Was ist denn los mit dir?", sprach sie ihn an.
Charly sah an die Decke und
holte tief Luft : "Also die verdammten Schmerzen und dann gibt es draußen
Probleme mit einem neuen Modul. Das kommt aus Deutschland! Und die haben
wieder in ihrer bescheuerten Norm geliefert!".
Seine Frau blickte gelangweilt.
Charly dachte bei sich :'Gott sei Dank, daß sie sich bei diesem Thema
immer langweilt! Jetzt hat sie meine innere Zerrissenheit vergessen. Charly
stand auf und marschierte Richtung Schlafzimmer : "Gute Nacht, mein Schatz!".
Am nächsten Morgen stand
Charly auf und ging an sein Terminal, das die ganze Station verband. Man
konnte sich von hier aus in alle möglichen Datenbanken einloggen.
Er wollte eigentlich nur wissen, wann er wieder zum Dienst mußte.
Und an welchem Modul er schweißen würde.
Nach zehn Sekunden erschien
der Dienstplan auf dem Schirm :Modul 17B- Frühschicht ab 12.2.2122-Partner
: Jeff Parcker -
'Jeff Parcker? Keine Ahnung!
Die wechseln hier aber oft die Teamkollegen!', Charly war beinahe mürrisch.
Ihm war es schon blöd genug, daß hier immer nur zu zweit oder
mehr gearbeitet werden durfte, und jetzt schon wieder ein neuer Partner!.
Es ging ihm so ziemlich auf
die Nerven, die verdammte Wechslerei!
Er schlurfte wieder zu seinem
Bett, aus dem gerade seine Frau aufstand, und legte sich wieder hin. Er
griff nach seinen Pillen, nahm eine, verabschiedete seine Frau, die wie
immer ohne Frühstück zum Dienst ging, und schlief mit dem Gedanken
:'Dienst? Mit wem? Und bei wem im Bett?', ein.
Er verbrachte so die Tage
bis zu seinem Dienstantritt.
Es war Dienstag, der 12.2.2122
sechs Uhr morgens. Jeff stand mit in seinem Raumanzug vor der Schleuse,
die ihn und seinen Partner zum Shuttle bringen sollte. Partner? Wo war
eigentlich sein Partner? Gerade als das Shuttle anlegte, kam ein mittelgroßer
Mann in einem Raumanzug den gewölbten Gang entlang gerannt. Charly
rief über Helmfunk: "Ganz schön knapp! Was?".
Der Mann drehte sich zu Charly
und funkte zurück: "Mußte mich erst noch von einer Schönheit
trennen!". Und im Helm von Charlys Gegenüber blitzen blonden Locken
eine kurzen Moment auf. Sofort spürte Charly einen kurzen Stich in
seiner Brust. Charly´s Gedanken überschlugen sich in seinem
Kopf: "Du Mistkerl! Warte nur! Warte nur bis wir draußen sind!".
Das Shuttle hatte nun den
Druckausgleich hergestellt und Jeff drängelte sich vor Charly und
stieg zuerst in das Shuttle. Aber das konnte Charly nicht mehr registrieren.
In Gedanken war Charly bei seiner Frau.
Am Modul 17B angekommen, stiegen
sie aus und hakten ihre Sicherheitsleinen in die Führungschienen.
Seit einem tragischen Verlust eines Mitarbeiters, im wahrsten Sinne des
Wortes ging dieser Mann im Raum verloren, mußten alle Arbeiter zwei
Sicherheitsleinen einklinken. Wenn ein Arbeiter von einem Modul zum anderen
umstieg, so wurde Leine A abgehängt und am anderen Modul eingehängt.
Danach folgte das gleiche Spiel mit Leine B. So war man immer mit einer
Leine gesichert.
Doch wie man es als 'Profi'
eben so meint, ist dieses Verfahren viel zu zeitaufwendig und Leine B treibt
mit einem Ende im All. Eine Sicherheitsleine ist genug. Charly hatte sich
gerade fertig angegurtet, da sah er aus den Augenwinkeln, wie Jeff nur
eine Leine einklinkte.
Sofort rief er über Helmfunk
Jeff an: "Heh, du Penner! Mach hier nicht solche Spielchen! Sonst muß
ich dich melden!". Das würde einen Monat keinen Lohn bedeuten.
Jeff drehte sich gelassen
um und antwortete: "Egal, die Frauen bezahlen mir sowieso genug."
Charlys Wut war jetzt so groß,
daß er sich mit einer immensen Anstrengung versuchte, sich zu beherrschen.
Was ihm nach fünf Minuten endlich wieder völlig gelang.
Sie fingen beide fast gleichzeitig
mit den Schweißarbeiten an. Nach einer halben Stunde mußte
Jeff um das Modul herum. Charly bewegte sich langsam an seiner Führungsschiene
auf Jeff zu. Gerade als sich Jeff mit einer Hand festhielt und seine Leine
mit der anderen ausklinkte, war Charly heran. Doch Charly machte keine
Anstalten seinen Schwung abzubremsen. Mit voller Wucht prallte Charly auf
Jeff, gerade als dieser ausgeklingt war. Der Aufprall war gerade so groß,
daß Jeff sein Gewicht mit einer Hand nicht mehr halten konnte.
Jeff schwang mit seinem Körper
nach hinten. Und sein Körper und der Impuls von Charly zogen an seiner
Hand. In Zeitlupe rutschte seine Hand vom Griff, gerade als Jeff mit der
anderen nachgreifen wollte. Zentimeter für Zentimeter schwebte Jeff
von der Station weg. Er schrie so laut über Helmfunk, das Charly fast
taub wurde: "Charly! Charly! Hilf mir!". Doch Charly rührte keinen
Finger. Jeff griff mit seiner linken Hand nach Charly, in die schwarze
Leere, die ihn von Charly trennte. Jetzt hatte sich Jeff schon sechzig
Zentimeter von der Station entfernt, da heulte er hysterisch über
Helmfunk zu Charly: "Du Drecksau! Hilf mir! Was ist denn los? ANTWORTE
!".
Doch Charly blickte ihm mit
leeren Augen nach.
Als Jeff schon zwei Meter von
der Station entfernt war, lief plötzlich ein gewaltiger Ruck durch
seinen Körper.
Er blickte an sich herunter,
so gut sein Anzug es zuließ, und wurde blaß!
Ein drittes Seil war an seinem
Anzug festgemacht. Er folgte diesem mit seinen Augen.
Da fing er an zu weinen.
Das dritte Seil war an Charly
befestigt. Es war Charlys Leine B!
Und Charly zog ganz langsam
an seiner Sicherheitsleine, um Jeff wieder herein zuholen.
©
Michael
Lontke |