Die feuchte Hitze des Tages
und die der Nacht ließen Eliah innehalten. Es schien hier, im Wald,
auf der grünen Insel, die grauer war, als jede andere, nie auch nur
einen kleinen Augenblick erfrischender Kühle zu geben. Tag und Nacht,
sie schienen sich nur durch hell und dunkel zu unterscheiden und dadurch,
daß sich tags die Sonne nur mühsam ihren Weg durch matte Wolken
bahnte und es nachts der Mond war, der seinen seidenen Schimmer durch die
Nebelfäden dringen ließ.
Schon seit Stunden war sie diesen Hügel hinaufgestiegen, ohne zu wissen, wo ihr Ziel denn liegen sollte, welcher Impuls sie eigentlich dort hinaufgetrieben hatte. Sie versuchte in der dunstigen Mattigkeit des heraufnahenden Abends, ganz weit, in der Ferne, irgendetwas zu erblicken, was den mühsamen Weg gerechtfertigt hätte, doch sie entdeckte nichts außer den peitschenden grünen Wipfeln der Bäume, die sich, gemästet durch die ewige Feuchtigkeit matt und träge ganz deutlich vom granitgrauen Himmel abhoben, dessen Dunkelheit Eliah einen erneuten Regenguß befürchten ließ. Seufzend tastete sie nach dem Regencape, das sich als nur allzu unzureichend herausgestellt hatte, unzureichend für diese Regengüsse, die an Sinnfluten gemahnten. Dennoch, der warme Regen war nichts, was man zu fürchten brauchte. Auch das Ächzen der Bäume im lauen Wind jagte ihr nicht mehr als einen angenehmen Schauer über den Rücken, war es doch die Furcht, die eine willkommene Abwechslung versprach, die ihr Herz klopfen ließ. Und dennoch, nun wußte sie mit einem Mal nicht mehr, ob sie denn überhaupt weitergehen sollte. Ihr Mut und ihre Kraft, sie verließen sie von Schritt zu Schritt, war doch nicht zu sehen das erhoffte Ziel und damit auch keine Rechtfertigung für die Mühsal der unternommen Wanderung. Sie wollte sich schon umdrehen, zur Umkehr wenden, da hörte sie hinter sich ein lautes Rascheln, dann ein Seufzen, ganz als käme es von einem verletzten Tier. Sie drehte sich um, starrte hinter sich, mit weitaufgerissenen Augen und sah, daß es bloß der Wind gewesen sein mußte, der sie zum Narren hielt. Beinahe enttäuscht suchten ihre Augen den feuchten Lehmboden nach irgendwelchen Spuren ab, doch sie fanden nichts außer ein paar Blätter, denen der Wind Flügel verliehen hatte. Sehnsüchtig sah sie in die Ferne. Es war, als hoffte sie, daß sich dort vor ihr im Dunst des Abends ein wie auch immer geartetes Ziel, zu dem es sich zu streben lohnte, dort über den ewigen Wäldern oder der Kühle des fernen Wassers hätte aufsteigen können. Sie sah nichts, was ihren Eifer erklären, ihre Sehnsucht hätte stillen mögen, doch nun drang in ihre Nase ein wunderbar süßlicher Geruch, der schwer und dunkel war. Zögernd tastete sie sich durch das Unterholz, ließ die Tropfen, die sich auf den Blättern gesammelt hatten, ihre Wangen befeuchten, schmeckte den Wald, schmeckt die Erde, die Bäume und fühlte sich ganz wundersam. Irritiert drehte sie sich um, hatte sie doch eben genau eine Hand auf ihrer Schulter gespürt, oder waren es nur die Äste der Bäume, die sie willkommen heißen wollten? Sie starrte in die Dämmerung, die sich grau und nicht golden, wie sie es gewohnt war, auf die grünen Blätter und die geschwungenen Dächer in der Ferne ergoß. Ich sollte gehen, fuhr es ihr durch den Kopf. Doch sie hörte nicht auf diesen, ihren eigenen Ruf, sondern ging weiter, bezaubert von diesem Duft, dem nichts glich, was sie je gekannt hätte. Ihre Wangen röteten sich, ihre Schritte tanzten über den Boden, ihre Hände strichen über die schroffe Rinde wie über die zarte Haut eines Geliebten. Und sie ging weiter, ohne Ende, ohne Ziel, in einer unbeschreiblichen Heiterkeit befangen. Und bald, da sah sie einen kleinen Tempel hoch oben vor sich aufragen. Wie gebannt betrachtete sie die roten Balken, das blätterfarbene Dach aus nach oben gebogenen Ziegel. Mit einem benommenen Lächeln auf den Lippen trat sie mit schnellen Schritten an die Eingangstreppe, die sich steil vor ihr in den nun fast schwarzen Himmel zu schlängeln schien. Ein Tor zum Himmel, oder ein Tor zur Hölle. Sie lachte über ihre Gedanken und stieg wie in einem Bann gefangen all die Hunderte von Stufen, ohne nur einmal innezuhalten. Doch kaum war sie oben angelangt, glaubte sie sich ihrem Ziel nahe, dem Ziel aller Ziele, da hörte sie ein entsetzliches Kreischen vor ihr und eine graue Silhouette hob sich von dem dunklen Tempelgebäude ab. Sie trat entsetzt zurück, als sie entdecken mußte, das es nur eine Katze gewesen war, die von ihr aus dem Schlaf geschreckt worden war. Sie seufzte erleichtert auf und ging diesmal sehr vorsichtig auf das dunkle Gebäude zu, das einen Handgriff entfernt von ihr lag. Sie fühlte das warme Holz des Türbalken und versuchte vorsichtig, sie zu öffenen, doch ein schweres eisernes Schloß hielt weiße Spinnweben und zentimeterhohen Staub hinter ihr gefangen. Enttäuschung befiel Eliah und eine unbeschreibliche Trauer, die sie sich nicht erklären konnte. Dennoch folgte sie dem Weg, gebannt von der Vorstellung, wohin er denn führen mochte. Sie lief am Tempelgebäude vorbei und kaum hatte sie es hinter sich gelassen, da sah sie über ihr ein kleineres Gebäude vor sich aufragen, das dem vorderen glich. Übermütig lief sie auf die Treppe zu, lief hinauf und blieb atemlos vor der schwarzen Tür stehen, die vor ihr wie ein schwarzes Loch aufragte. Sie fröstelte trotz der Hitze der Nacht und fühlte, wie die Angst ihr Herz zu ergreifen drohte, doch sie biß die Zähne zusammen und wandte sich zu diesem dunklen Eingang, der wie ein Maul vor ihr aufragte. Da, plötzlich, da sah sie einen schwarzen Schatten wie schwarzer Rauch auf sie zukommen, er berührte sie, traf ihr Herz, nahm ihr den Atem, sie stolperte, fiel hin und hörte die Bäume wie im Lachen ächzen. Sie rappelte sich auf, rannte die Treppe hinunter und lief zum anderen Tempel, ganz als erwarte sie Hilfe von ihm. Doch sie spürte dort nichts, außer gähnender Leere und sah, kaum hatte sie sich nach hinten gewendet, wieder diesen schwarzen Schatten auf sie gleiten, der ihr Herz gefrieren ließ. Sie spürte den Haß dieser namenlosen Existenz und stolperte am Tempel vorbei, die Stufen hinunter, den Wald hinter sich lassend und in den Lärm der Stadt eintauchen, in der das Gedröhne des Verkehrs die Schatten hinter ihr auflöste. Im Hotelzimmer angekommen, dessen graue Wände sie ratlos anzustarren schienen, erwartete sie bereits das Schnarren der Klimaanlage, das sie in den Schlaf sang. Am nächsten Morgen beschloß sie, sich wieder zu dem Tempel zu begeben, aber dieses Mal bei Tag, wo die kreischende Helligkeit des Morgens die Geister der Nacht verscheuchen würde. Sie hatte erwartet, nun eine gänzlich veränderte Umgebung wiederzutreffen, weiß man doch, das Tag und Nacht mehr unterscheidet als hell und dunkel. Doch sie mußte feststellen, daß sie sich irrte, das es nun abermals eine unbeschreibliche Sehnsucht war, die sie befiel, kaum hatte sie sich dem größeren Tempel genähert. Und wieder spürte sie den betörenden Geruch von triefender Süße, von dunkler Nacht, als ihre Hände die Tür des Tempels berührten. Doch es waren nicht ihre Augen, denen sie nicht traute, es war ihr Verstand, der sie zu foppen schien, als sie durch die blinden Scheiben des alten Tempels eine Gestalt am verstaubten Altar zu erblicken glaubte, die sie zu sich zu winken schien. Verstört trat sie näher an die nebligen Scheiben, blickte durch die Bräune des Tempels und sah die Gestalt eines schmalen, jungen Mannes, der gleich einem Priester vor dem Altar stand, sich dann setzte, die Beine übereinander geschlagen. Sie schüttelte erstaunt den Kopf, konnte sie doch durch die Gestalt hindurch die Wände sehen, ganz so, als sei sie gänzlich durchscheinend. Der junge Mann schien zu lachen, schien sie auszulachen und doch gleichzeitig willkommen zu heißen, so daß sie voller Sehnsucht ihre Nase noch fester an das feuchte Glas preßte. Doch kaum war sie schon bereit, nun wirklich nach einer Möglichkeit zu suchen, die Tür zu öffnen, da spürte sie, daß dieses Wesen mehr war, als nur ein junger Herr, der ihr Herz zu erorbern trachtete. Sie wich zurück, ihre Hände fingen an zu zittern, und sie lief am Tempel vorbei, die Treppe zum kleineren Tempel hinauf, wo ein Heulen sie zurückweichen und wieder hinablaufen ließ. Wieder kam sie am größeren Tempel vorbei, wo eiskalte Hände sie ergriffen, sie liebkosten, ihr die Sinne zu rauben schienen und es ihr unmöglich machten, sich zu fürchten. Sie tastete hinter sich und vor sich, doch kaum suchte sie die Hände, die nach ihr griffen, da griff sie in die Leere. Ein raschelndes Geräusch ließ sie zusammenfahren und die Flucht ergreifen, ließ sie laufen und wieder in die wilde Kälte der tosenden Stadt flüchten. Abends machte sie einen weiteren Versuch, sie wollte den finden, der ihr Herz gesucht und gefunden hatte, den sie sehen und doch nicht sehen konnte, von dem sie nicht wußte, wer er oder was es war. Doch lange mußte sie suchen, bis sie ihn fand, bis sie ihn zusammengekauert in der linken Ecke des Tempels erblickte, bis sie ihn weinen sah, so daß ihr Herz zu zerspringen schien. Sie wollte ihn trösten, doch sie konnte es nicht, seine Gestalt zeichnete sich nur matt vor dem Hintergrund ab und seine Traurigkeit nahm ihm die Kraft, zu ihr hinauszukommen, die Wände zu überwinden, die auch für sie geschlossen waren. Und es war nicht nur Wut, es war Gram, sogar Zorn, der ihn lähmte „ Du bist schuld, daß ich hier bin. Du warst es, der mich hierher brachte, in deinem letzten Leben!“ Sie zuckte zusammen, was meint er bloß, dachte sie und doch waren es die Bilder in ihrem Kopf, die sie schaudern ließen. Ich war es tatsächlich dachte sie, und doch war es nicht meine Absicht, und doch liebte ich ihn, so wie ich ihn nun liebe. Es waren ihre Tränen, die ihre Gesicht befeuchteten, die sich ihren Weg bahnten, die sie weglaufen und in den Granit der Stadt eintauchen ließen. Sie wußte, wer er war, und wer sie gewesen war, denn sie hatte ihn geliebt, jedoch nicht genug, sie hatte ihn gekannt, jedoch nicht genug, um ihm zu zeigen, wie er das Wissen der Eingeweihten nutzen mußte, so hatte es ihn nach seinem Tod hierher verschlagen, so hatte ihn dieses Gebäude in den Bann gezogen, war seine Gier zu seinem Gefängnis geworden. Sie weinte, doch eins war gewiß, so viel sie auch trauern mochte, befreien würde nur er selbst sich können. Sie wußte, das der Tag der Abreise nah war, nur kurz war die Zeit, die sie mit ihm genießen konnte, nur kurz die Zeit, in der sie ihm Trost spenden konnte. Doch als sie die Treppe hinauslief, nun in der Stille des Abends, da war er nicht da und war doch da. Sie sah ihn nicht, doch sie spürte ihn, seine Sehnsucht, seine Grausamkeit und seine Trauer, und sein Gram darüber, daß sie abreisen mußte und ein letztes Mal fanden sich ihre Arme und ihre Münder, bis die Helligkeit des Tages und das lautes Hupen der Stadt und das Dröhnen der Krähne dort unten im Hafen, die Idylle zerstörten und ihre Herzen trennten. Sie nahm die Koffer und rannte
zum Flughafen, und erst als sie dort über der Insel in zehntausend
Meter Höhe schwebte, da rann ihr eine Träne über das
Gesicht und sie dachte mit einer Kraft, die ihre Gedanken beinahe hörbar
machte, die das Tösen der Lautsprecher vor ihr fast übertönten:
Ich werde wiederkommen, das verspreche ich dir, irgendwann. Und sie wünschte
nichts sehnlicher, als daß sie ihn gelehrt hätte, wie er sich
hätte befreien und mit ihr kommen können.
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