"Diese Nacht wird anders als die
anderen Nächte sein", dachte Johannes als er durch die schmalen dunklen
Gassen auf dem Weg zu der kleinen Kirche war.
Eine auf dem Rücken liegende
Mondsichel hing in einem Sternenmeer, aus dem die Unendlichkeit troff.
Das Städtchen selbst lag überwiegend im Schlafe, die Fensterläden
waren geschlossen, nur hie und da sah er Kerzenlicht hinter einer der kleinen
Butzenglasscheibe flackern. Eine Katze maunzte irgendwo auf einem nahen
Dach durch die Stille, die über allem hing; und es war kalt, nicht
mehr so lau wie noch vor ein paar Wochen.
Da! Das Licht einer Laterne schnitt
durch die Dunkelheit, der Nachtwächter; Johannes sprang in den Schatten
eines nahegelegenen Toreingangs. "Eigentlich verrückt", sagte er im
Stillen zu sich selbst, und dies nicht das erste Mal, "habe ich doch nichts
zu verbergen". Trotzdem war er bei seinen nächtlichen Spaziergängen
zum Glockenturm immer vorsichtig gewesen und dem Nachtwächter stets
aus dem Wege gegangen.
Tatsächlich bog jener nicht
in die enge Gasse ein, in der Johannes sich befand, und nach einigen weiteren
Atemzügen traute sich er sich aus dem sicheren Versteck der Tür.
Das Licht der Laterne war gerade hinter einer Häuserecke verschwunden.
Mit einem Seufzen setzte er seinen Weg zur Kirche fort...
Johannes war der Glöckner
der Kirche, und hatte auch, als die kleine Gemeinde vor einem Jahr eine
Kirchturmuhr erhielt, die Aufgaben des Uhrwächters mit übernommen.
Dabei war ihm, mehr durch Zufall, in einer Nacht zwischen den großen
Zahnrädern einer wundersame Entdeckung gekommen: Er konnte mit Hilfe
des Uhrwerks durch die Zeit reisen!
Er wollte in jener Nacht einen
Uhrwerksfehler beheben und dabei hatte er fasziniert der sich bewegenden
Mechanik zugeschaut; er muß wohl Stunden in dem Glockenturm verbracht
haben, als ihm auf einmal, seine müden Augen schauten gerade auf ein
sich im Kreise bewegendes Rädchen, auffiel, daß sich auf dem
Zahnrad Schriftzeichen befanden. Seinen Augen kaum trauend, verfolgte er
Buchstabe um Buchstabe und laß dort eine versteckte Anleitung.
Er hatte zwar vorher schon Buchstaben
auf den Bauteilen gesehen, hatte jedoch nicht weiter auf sie geachtet;
doch jene hier waren anderer Art, sie gaben keinen Namen des Erbauers der
Uhr preis, es war eine Art Unterweisung. Zwei volle Wochen verbrachte der
Uhrwächter damit, die sich gleichbewegenden Teile zu studieren und
machte Seite um Seite Notizen. Bis tief in die Nacht verweilte er so bei
flackerndem Kerzenschein. Oft schlief er zwischen dem tickenden Zeitmeßgerät
ein, wurde dann nur durch den lauten Glockenschlag wieder wach. So wurde
er manchmal tagelang nicht gesehen.
In dem Städtchen war gemunkelt
worden, daß der Glöckner nun sehr sonderbar, wenn nicht sogar
verrückt geworden war. Befand er sich doch Stunden, gar Tage in seinem
Glockenturm und schaute dem Verlauf der Zeit zu. Selbst Nachts, wo normale
Menschen schlafen würden, schien aus dem kleine Dachfenster des Uhrenturmes
noch Licht. Einige glaubten sogar, daß es an der Uhr selbst läge,
und meinten, es wäre doch besser die Zeit an dem Stand der Sonne zu
messen. Andere meinten, der arme Glöckner wäre durch das Ticken
nun endgültig des Verstandes beraubt worden, aber man hätte ja
schon immer gewußt, daß jener ein Sonderling und nicht bei
klarem Verstand war, denn nach dem Tode seiner Frau vor zwanzig Jahren
hätte es ihm doch an einem klarem Lebensweg gemangelt.
Johannes verweilte währenddessen
in dem Turme und schaute immer mehr fasziniert auf dieses sich drehende,
schwingende und surrende Uhrwerk. Mit seinen Händen sanft über
jedes Teil gleitend, entzifferte er jedes einzelne Wort. Bei manchen Teilen,
die sich besonders langsam bewegten, brauchte er Stunden um ein neues Wort
zu bekommen. Teilweise baute er einzelne Räder aus, um besser an die
Beschriftungen derselben zu kommen
Nach einer Woche wurde ihm bewußt,
daß der Erbauer hier ein Erbe hinterlassen hatte, welches wortwörtlich
Dimensionen sprengte... das Geheimnis, durch die Zeit zu reisen!
Und in jedem der ineinandergreifenden
Zahnräder, der blanken Federn und hölzernen Hebeln waren Wörter,
ja selbst Zeichnungen eingraviert, und Johannes untersuchte jedes noch
so kleine Teil des gigantischen Uhrwerks auf Wörter, auf daß
ihm ja nichts entgehen würde.
Der Erbauer der Uhr wollte seine
Entdeckung der Nachwelt und jemandem, der ebenso eine Hingabe zu dem Zeitmeßgerät
hatte wie er selbst, weitergeben. Er brauchte noch eine weitere Woche,
um den Mut aufzubringen, diese Erfindung das erste Mal auszuprobieren.
Saß Johannes nun in dem
Glockenturme, inmitten des gigantischen Uhrwerks, und bewegte hier ein
verborgenen kleinen Hebel, zog dort eine Feder auf oder entfernte eine
Sperre, die ein bestimmtes Zahnrad festhielt und löste zu Schluß
jenen winzigen Griff mit dem hölzernem Knauf, so kamen Räder
und Rädchen im Schwung, Federn surrten, einige Gewichte schwangen
- und dann, nach einer Weile, ein kurzes Surren; ein Schwingen und die
Zeit kroch zurück...
Der Glöckner hatte natürlich
sofort versucht mit dem Erbauer der Kirchturmuhr zu sprechen, doch dieser
war, so erfuhr er, fast unmittelbar nach dem Bau der Uhr gestorben.
Am Anfang drehte er die Zeit nur
ein wenig zurück, erst ein, zwei Tage - später dann um Jahre;
und als er sich es zutraute, um Jahrzehnte.
Er konnte in der Zeit nichts verändern,
nur als stiller Zuschauer in alte Zeiten blicken: Seiner Geburt wohnte
er bei und dem ersten Kuß mit Marlene, an diesem wunderbaren Erntedankfest
am Ende eines heißen Sommers. Sie beide lagen unter einem klarem
Sternenhimmel im Gras, eine leichte Brise wehte und wischte die Hitze des
Tages von ihren Gesichtern, in der Ferne hörten sie das Gelächter
der Dorfbewohner.
Bestimmt waren sie nicht die Einzigen,
die in dieser zauberhaften Nacht verliebt in die Sterne blickten. Das Zirpen
der Grillen, der Schrei eines Käuzchens und doch schien es, als wäre
diese Nacht nur für sie beide...
Im nächsten Frühjahr
heirateten Marlene und er, und rückblickend wußte Johannes,
daß er niemand mehr so lieben würde wie sie...
Sie starb in einem harten Winter
an einer Lungenentzündung, Oh, welch furchtbare Zeit war das! Ohne
seine geliebte Frau; doch Johannes hatte seine Trauer um Marlene schließlich
mit der Gewißheit überwunden, daß er seine Frau irgendwie
wiedersehen würde. Viele Leute in dem Städtchen dachten, daß
er verwirrt sei, weil er nicht wieder geheiratet und beschlossen hatte,
ohne Frau zu leben.
Außerdem war er an der Krönung
des alten Königs noch einmal zugegen, oh ja, jener war ein guter und
gerechter Herrscher gewesen und seine Krönung war damals ein wahrlicher
Prunktag gewesen...
Johannes reiste in viele für
ihn bedeutungsvolle Momente und Stunden in seinem Leben zurück und
viele, im Schleier des Vergessens verlorene, Erinnerungen wurden wieder
lebendig.
Des öfteren reiste er auch
einfach in die Zeit zurück, in der die Kirchturmuhr gebaut wurde,
er schaute hier dem Erschaffer der Uhr über die Schulter und lernte
somit die komplizierte Mechanik noch besser kennen. Johannes liebte es,
mit welcher Hingabe er all die Teile zusammenfügte, hier und dort
mit seinen geschickten Fingern unzählige Zahnräder zusammenfügte,
summend eine Schraube anzog, an manchen Stellen einen Tropfen Öl hinzugab
oder auch nur wie er das halbfertigen Uhrwerk mit glänzenden Augen
anschaute. Aus einem schieren Wust von unzähligen Teilchen, wurde
hier ein Werk erschaffen, von dem die Menschheit nur träumen konnte
und dieser einfache Uhrmacher hatte die Möglichkeit, die Zeit mit
seinen Händen zurückzudrehen...
Doch brachte der Uhrenwächter
jedesmal auch ein wenig Schwermütigkeit mit, kam er aus der Vergangenheit
zurück - konnte er doch nicht mit dem Erbauer oder anderen Personen,
insbesonders mit Marlene, sprechen. Hätte er doch von ganzen Herzen
sich noch einmal gewünscht zu Marlene sagen zu können, daß
er sie lieben würde!
Wieviele Fragen hätte er
an diesen alten weißhaarigen Mann gehabt, wie gerne hätte er
sich mit ihm über jenes wunderbare Werk unterhalten welches er geschaffen
hatte; doch - Johannes konnte nie in irgendwelche Situationen eingreifen
oder etwa mit Personen sprechen. Irgendwann auf einer Zeitreise war sogar
ein Mann mitten durch ihn hindurchgegangen; er mußte also, verweilte
er in der Vergangenheit, eine Art Unsichtbarkeit besitzen.
Zu seinen Zeitreisen brach Johannes
stets in der Nacht auf, da er am Tage Angst hatte entdeckt zu werden oder
auch jemandem zu schaden; so schlich er sich, wie auch in dieser Nacht,
zum Kirchturm mit der Uhr, um zwischen dem Ticken und Verlaufen der Zeit
selbst in andere Zeitdimensionen aufzubrechen.... Hatte er indes immer
nur eine Stunde Zeit, von Glockenschlag zu Glockenschlag.
Tatsächlich sollte diese
Nacht anders als die vorhergegangenen Nächte sein - der alte Uhrwärter
wollte diese Nacht das erste Mal in die Zukunft schauen. Ganz wohl war
ihm nicht bei dem Gedanken, hatte der Schöpfer der Uhr nicht davor
gewarnt, die Zeitmaschine anders als für die Vergangenheit zu benutzen?
Andererseits hatte er nun mehrere Nächte die schwierigen Aufzeichnungen
des Uhrmachers studiert und konnte auf keinen Nachteil oder Irrtum treffen.
Warum sollte das Uhrwerk nicht auch in die andere Richtung funktionieren?
Er wischte den Gedanken beiseite.
Die kühle Nachtluft ließ ihn ein wenig frösteln und er
beschleunigte seinen Schritt ein wenig...
In der Schenke brannte noch Licht,
also waren doch noch nicht alle Stadtbewohner im Bett. Ein Betrunkener
torkelte in die Kühle der Nacht hinaus, doch Johannes lenkte seinen
Gang schnell in das nächste Gässchen. Das Bellen eines Hundes
durchbrach die Stille und Sekunden später bekam dieser auch Antwort
von seinen Artgenossen, doch nach diesem kurzen Intermezzo fiel das Städtchen
wieder in seinen Schlaf zurück. Vor ihm erhob sich bereits der Glockenturm
und in ihm die Uhr, gegen den unendlichen Sternenhimmel...
Die Tür des Turms war nicht
verschlossen, und selbst wenn, hatte er ja auch einen Schlüssel. Johannes
schloß schnell die Tür hinter sich und entzündete den fünfflammigen
Messingkandelaber, der in einer Fensterleibung stand, mit einem Streichholz.
Nun, im flackernden Kerzenlicht,
begann er die knarrenden Stufen der hölzernden Treppe hinauf zu steigen,
dem tickenden Zeitmeßgerät entgegen. Die steile Treppe wurde
auf einem Absatz schließlich zu einer schmalen Leiter, die an ein
Falltür endete. Hier oben unterhalb des Uhrwerks war das Ticken schon
erheblich lauter und schien es ihm doch hier immer wieder, als ob ihn die
Zahnräder und Federn erwarteten; gab er ihnen schließlich etwas
anderes, als nur die Zeit abzuzählen.
Hinter der Falltür schließlich
tickte es so laut, daß die Luft, die er atmete, vermeintlich mit
purer Zeit gefüllt war. Dieses Ticktack der Uhr erinnerte einen stark
an die Vergänglichkeit des Daseins und der allzu kurzen Zeit, welche
ein Mensch im Leben doch hatte...
Mit dem Kerzenleuchter in der
Hand stand er dann einige Minuten einfach da und sein Blick glitt nahezu
liebevoll über die Mechanik, scheinbar begrüßten ihn die
Gewichte mit einem kleinen Nicken, einem zusätzlichen Pendeln, die
Federn mit einem etwas lauterem Surren und die Zahnräder mit einer
winzigen extra Umdrehung, die für das ungeschulte Auge kaum sichtbar
war.
Die Falltür geschlossen und
die Hand an den ersten Hebel gelegt, begann Johannes die Einstellungen
für diese heutige Reise vorzunehmen - vor in die Zeit. Scheinbar war
das Zahnwerk ein wenig befremdet über die unüblichen Vorgänge,
vorsichtig glitten seine Hände hier über einen bestimmten Hebel
und versuchten ihn in die andere Richtung umzulegen. Allerdings hatte der
Erbauer an dem kleinen Hebel mit dem Holzknauf einen Widerstand eingebaut,
"Verdammt, warum nur?", dachte Johannes, während er die Schraube löste.
Jetzt würde es funktionieren! War da ein ungewohntes Knirschen in
dem Uhrwerk? Wie ein Ausruf? Fast als ob es dem mechanischem Gebilde widerstrebte,
in die von Johannes vorgegebene Richtung zu laufen...
Die neuen unüblichen Bewegungen
der Teile ließ ihn für eine kurze Weile innehalten, bevor er
die große silberfarbene Feder aufzog, auf der das Öl glänzte,
und meinte indessen an dieser Stelle einen Widerstand des Metallteils zu
spüren.
Auf keinem der Teile war eine
einzige Rostspur zu finden und er war jedesmal, das mußte er insgeheim
zugeben, stolz darauf.
So, dieses Gewicht in seiner Lage
verändern und jenen Haken des Zahnrades umsetzen - gleich mußte
die Zeit ihren Gang nehmen...
Da schlug die Uhr einmal.
Durch das kleine Dachfenster in
die Sterne schauend, gab Johannes, mit feuchten Händen und einem schnellerem
Atem als sonst, den letzten Hebel mit dem Holzknauf frei, und die Feder
begannen sich, unmerklich für das menschliche Auge zu entspannen;
mit klopfenden Herzen schaute er auf die sich umgekehrt laufende Mechanik.
Das kleine Rädchen vorn ließ ein surrendes Geräusch hören,
weitere Räder begannen ihren Lauf aufzunehmen, ein Klicken. Da! Das
bekannte Surren - gleich, gleich mußte er aufbrechen, in die Zukunft!
Nur einen Tag weiter... nach Morgen.
Mit einem lautstarken Schnarren,
von welchem er meinte es wäre noch im nächsten Dorf zu hören,
setzte sich das große, von Öl glänzende, Zahnrad im tanzenden
Kerzenschein in Bewegung.
"Auf in einen ungelebten Morgen!",
dachte Johannes, "in die Zukunft..."
Doch schlagartig, wie ein Blitz
durchfuhr ihn ein Gedanke. Plötzlich fiel ihm der Grund der Warnung
ein! Doch die Zahnräder begannen ihren schicksalhaften Lauf durch
die Zeit, ein Pendel schwang traurig, die Federn entspannten sich unendlich
langsam...
Johannes weinte noch eine
kleine Träne, doch bevor diese zu Boden fiel, hatte auch sie sich
zu Staub verwandelt, wie auch der Rest von dem unglücklichen Uhrwächters
und der letzte Gedanke schwebte mit ihm davon..."Morgen existiert noch
nicht"... |