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Auf Bewährung / Morgens halb 10 in Deutschland



Es war einer dieser Abende, mit denen wohl alle Geschichten auf Zauberfees Seite anfingen. Ich kam gerade von einer Vernissage. Flipper hatte gerade seinen neuen Bilderzyklus "Dekadenz der Meeresfrüchte" vorgestellt. Echt ein toller Kerl, der Delphin, aber leider musste man seine Bilder bar bezahlen - in Heringen. Nicht nur, daß sich der Marktwert des Künstlers in letzter Zeit beträchtlich gesteigert hatte - für einen mittelmäßigen Flipper musste man gut und gerne drei LKW-Ladungen Fisch hinblättern - nein, nach der Bezahlung stanken auch die Klamotten nach dem Zeug. Und ich hasste Fisch. Gut, ich weiß schon, was ihr sagen wollt, dann meide doch Flipper und seine Bilder. Aber ganz so einfach war das nicht. Sei Zauberfee in ihrem Diary unter "In" die Flipper-Bilder gesetzt hatte, gingen die verdammten Bilder weg wie warme Sem.. äh, frischer Fisch. Also roch jeder zweite Banker in dieser riesigen Stadt nach Heringen. Es war schlimmer! Für die Idioten, die sich keinen echten Flipper leisten konnten, hatte Jean-Paul Goodyear das "a smell of dead fish" After Shave herausgebracht.... die Folgen muss ich nicht erklären. Also blieb mir nach diesem Abend eigentlich nur das "Auf Bewährung", eine der wenigen Bars, in denen das Schild "Heringe unerwünscht" einen ruhigen, fischfreien Abend versprachen. Ich schwang also meinen Hintern auf den einzigen freien Stuhl an der Theke. "Was darf es sein?" fragte Ted, der verdammt beste Barkeeper diesseits des Jenseits. Auf Bewährung draussen, wie der Name der Bar schon sagte. Sein letztes Cocktailexperiment hatte drei seiner Gäste ins Krankenhaus gebracht. "Einen Johnny Stopper!" Das dreifach destillierte Gesöff würde mir helfen, den Fischgeruch aus der Nase zu bekommen. "Und mir einen Nagellack!" meinte mein Thekennachbar. "Welche Farbe?" fragte Ted zurück. "Blau, James Blau!" kam die Antwort prompt zurück. Ein echt harter Kerl. Und zu mir "Hi, ich bin Harry Goldhamster..." Das war ungewöhnlich. Denn Hamster war in Wirklichkeit ein Meerschweinchen. "... und jetzt keine Bemerkung, daß ich ein Meerschweinchen bin!" Mann, ein wirklich harter Typ, dieser Harry. Mein Stopper kam. Ich nippte nur an dem Getränk, während Harry, mit dem ich langam ins Gespräch kam, seinen Nagellack auf Ex runterschüttete. Kein einziger blauer Spritzer an den Zähnen oder auf der Zunge - ein echter Profi, wenn es ums Saufen ging. So ging es ein paar Drinks lang, bis ich wirklich gut drauf war und Harry einen verhängnisvollen Vorschlag machte. "Ey, Harry, lass uns beide noch eine Dreier-Geschichte machen." Harry glotzte mich aus mittlerweile nagellackunterlaufenen Augen an (Das Blau stand ihm wirklich hervorragend). "Mann...Kleiner! Tue was Du tun musst, aber verschone mich damit." Dann wandte er sich ab und bestellte noch einen Nagellack. Glitzer. Silberglitzer. Das würde seinen Augen den Rest geben. Silberglitzerblau. Ich sag es ja - ein echt harter Kerl.

Morgens halb zehn in Deutschland...

Rrrrrr Rrrrrrrr Rrrrrrr "...werden Ihre Zähne so gelb, das selbst die Zitronen in ihrem Garten blass werden vor Neid. Gelb-o-Gel ist jetzt auch in den Farben Nikotin/Fahlgelb und Cyberzauberseiten- backgroundgeflecktgelb erhältlich. Kaufen Sie noch heute - und sie sehen gleich zehn Jahre kaputter aus..." Rrrrrrr Rrrrrrr Rrrrrrr Okay. Ich denke. Also bin ich. Allerdings denke ich nicht besonders klar. Bin ich deswegen.... stööööhn. Rrrrrrrrrr Rrrrrrrrrr Rrrrrrrrrrr Ein Auge öffnen. Sofort schließen, Schmerzwelle verarbeiten. Klare Sofortdiagnose - ich hatte einen Kater. Augen wieder öffnen. Stöööööhn. Rrrrrrrrr Rrrrrrrrrrr Rrrrrrrrrrr "Guten Morgen!" Harry Goldhamster (das Meerschweinchen, ihr wisst schon), drehte gerade fröhlich seine Runden, nein, die Runden drehten sich um ihn, nein... stööööhn. Okay, ihr habt genug Gestöhne, aber ich muss Euch ignorantem Leserpack, frisch, gestählt und geduscht am Computer sitzend doch meine Situation nahebringen. Naja, auf jeden Fall lief Harry in einem dieser Drehrädchen, die man Hamstern, nein, Meerschweinchen normalerweise in das Häuschen hängt. Auf jeden Fall drehte sich alles, vor allem meine Gedanken in meinem Schädel. "Ich brauch jetzt erst einmal einen Kaffee!" stöhnte ich laut. "Hier!" prompt streckte sich eine Tasse dampfend heißen Kaffees in mein Blickfeld. Gehalten von einer anthrazitfarbenen Klaue. "Oh, servus 234.433.12!" "Hallo, Kleiner!" rasselte die Ameise fröhlich. Ich hatte 234.433.12 gestern abend in fortgeschrittenem Nagellack-bedröhnten Zustand im Auf Bewährung kennen gelernt. Kein übler Bursche, außer dass er seine Knabberreien bevorzugt in leicht angefaultem Zustand zu sich nahm. Schließlich fühlte ich mich in der Lage aufzustehen. Nachdem ich gemerkt hatte, daß zwischen Gefühl und Können ein großer Unterschied besteht, schaffte ich es doch, meine Tasse neben 234.433.12īs Teller voller angefaulter Äpfel abzustellen. Langsam hangelte ich mich am Schreibtisch entlang in Richtung Terrassentüre. Der Ausblick auf den schneeweißen Sandstrand war wunderschön, auch wenn die Kopfschmerzen einen ungetrübten Genuss verhinderten. Aber was ich da am Strand erblickte, verschlug mir glatt den Atem. Mein Herz stand still. Seufzer. Tiefer Seufzer. Jaaa! Eine Cocktailbar! Der Tag konnte beginnen!

copyright Rüdiger Wenig