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Streetlife



Es war mal wieder einer dieser Tage, an denen man keinen Hund vor die Tür jagt. Die dicken grauen Gewitterwolken am Himmel hingen so tief, daß sie stellenweise mit den oberen Stockwerken der Hochhäuser zu verschmelzen schienen. Sie wirkten genauso fest und stofflich wie die gewaltigen Betonmassen, die unter ihnen lagen. Fast hatte es den Anschein, als wäre die göttliche Zementmischmaschine erschienen, um das Werk zu vollenden, das die Menschen begonnen hatten, um die Häuserschluchten New Yorks mit ihrer grauen Masse zu überfluten, die letzten Hohlräume zu füllen und die Stadt zu einem einzigen toten, massiven Felsklumpen erstarren zu lassen. Johnny dachte da in weniger dichterischen Dimensionen. Poesie hin oder her, die Realität sah anders aus. Ihn interessierte momentan eigentlich nur, wo er schnellstmöglich ein trockenes Plätzchen fand, denn es konnte sich nur noch um Minuten handeln, bis es anfing, in Strömen zu regnen. Das Leben auf der Straße ist hart. Du hast keine Bezugspunkte, keine Ruhe. Es gibt nichts und niemanden, kein Zuhause, zu dem du am Abend zurückkehrst. Es geht immer nur vorwärts, immer in Bewegung, und doch trittst du auf der Stelle. Die Zeit spielt keine Rolle. Die Vergangenheit, Erinnerungen an bessere Zeiten, solltest du schnellstens vergessen. Sie halten dir nur vor, wie dreckig es dir jetzt geht. Rosig war Johnnys Leben nie gewesen. Auf der Straße geboren, von der Mutter verlassen, ab ins Heim. Dann war er von einer Pflegefamilie aufgenommen worden. Dort hatte er mehrere Jahre relativ glücklich gelebt. Seine neuen Eltern hatten nie das Gefühl in ihm aufkommen lassen, er könnte nicht wirklich dazugehören. Alles lief bestens, bis die Zwillinge geboren wurden. Er war an den Rand gedrängt und vernachlässigt worden. Irgendwann war er sich nur noch wie ein störender Fremdkörper vorgekommen, und als er dann Streit mit seinen neuen Stiefgeschwistern angefangen hatte, hatten sie ihn kurzerhand vor die Tür gesetzt. Das war vor einer Ewigkeit; mittlerweile war er erwachsen. Die Zukunft ist bedeutungslos. Es gibt keine langfristigen Perspektiven, alles was zählt, sind das Hier und Jetzt und die nächsten fünf Minuten. Du hast Hunger - such dir was zu essen. Du bist müde - wo kannst du schlafen? Da sind die Cops - sieh zu, daß du Land gewinnst. Leben für den Augenblick. Überleben. Jetzt zur Rush-hour wälzte sich eine gelbe Taxi-Lawine träge die Berry Street hinunter und bildete parallel zum East River einen zweiten Strom. Mit der Unverfrorenheit des geborenen Großstadtbewohners schlängelte sich Johnny quer durch den Verkehr auf die andere Straßenseite. Er wollte in den McCarren Park. Dort gab es einen alten Pavillon, der eigentlich immer leer war. Als die ersten Regentropfen fielen, leerten sich die Bürgersteige. Am Rande des Parks bot sich ihm eine günstige Gelegenheit in Form eines Würstchenverkäufers, der hektisch mit dem Abbau seines Stands beschäftigt war. Bevor dieser überhaupt merkte, was los war, war Johnny mit einem Hot Dog im Park verschwunden. Er schaffte es noch rechtzeitig zu seinem Unterstand, bevor das Unwetter richtig losbrach, und kauerte sich in der am besten geschützten Ecke auf den Boden. Johnny hatte schon eine ganze Weile vor sich hingedöst und lauschte den Regentropfen, die jetzt nur noch vereinzelt auf das Dach platschten, als ihn etwas aufmerken ließ. Irgendetwas hatte sich geändert. Er blickte auf und stellte fest, daß er nicht mehr alleine war. Plötzlich stand sie da, einfach so. Ihre langen blonden Haare hingen in nassen Strähnen herunter. Er erkannte sofort, daß sie aus besseren Kreisen stammte. Sie gab keinen Ton von sich, aber das war auch nicht nötig. Johnny sah in ihren Augen, was sie wollte, und er besorgte es ihr ohne zu zögern. Die Gelegenheit dazu bot sich ihm nicht oft. Sofort nach diesem kurzen, heftigen Abenteuer suchte er zufrieden das Weite. Immer vorwärts, nie zurück. Die ersten Sonnenstrahlen brachen durch die sich auflösenden Wolken, als er kurz Halt machte, um an einer Lampe das Bein zu heben.

copyright Oliver Bonkowski