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Glaszauber



"Klapper...., klapper...., klapper....". Ein Abend wie jeder andere. Seit Monaten begleitet mich dieses Geräusch. "Klapper..., klapper" ...Pause... "Klapper..., klapper..." Ich öffne meine Augen, blicke vom Bett hinüber zur Geräuschquelle, sehe zu wie diese hastig eine neue Zigarette aus der Schachtel fingert, die Augen unverwandt zum Bildschirm gerichtet. "Pfffffff...", gieriger Zug, gefolgt vom hektischer werdenden "klapper..." . Resigniert schaue ich mich im Zimmer um: Die Comicfigur in der Vitrine, die (Horror-)Bücher, dahinten in den tiefsten Tiefen des Kleiderschrankes müssen noch Strapse ihr stilles Dasein fristen und mottenzerfressen die Sinnlosigkeit ihres Seins beklagen, verstaubte Bierdeckel mit hastig hingekritzelten Adressen (sie traf früher mit "echten" Menschen zusammen). Kurzum, alles Insignien der Pre-Internet, Pre-Homepage-Ära. "Ach, Sanne", seufze ich. "Klapper" antwortet sie geschickt und schnippt ihre Asche aufs Mousepad. Ich hasse das übrigens. "Klapper, klapper, klapper, klapper, klapper" -Pause/Pause/Pause- "Klapper, klapper, klapper, klapper" - Aha, Chat! "Ich hab' Melody getroffen" kreischt sie unvermittelt und erschreckt mich. "Oh, wie schön", heuchle, hoffentlich zwischen die Augen, denke ich. (Habe ich bereits meinen etwas fiesen Charakter erwähnt? Nein? Andermal!) Diese Namen: Melody! Wahrscheinlich tippt die auf Xylophon-Tasten. "Was schreibt sie denn, Liebling?", säusele ich. "Klapper" bescheidet sie mich knapp. Aha! Zufrieden lehne ich mich zurück und schließe wieder die Augen. "Klapper..., klapper..., klapper..." Manchmal läßt sich bei diesem, eigentlich verhaßten Geräusch wundervoll weggleiten, in den seligen Schlaf des Vergessens und Verzeihens, ein wonniges Lächeln muß jetzt auf mir liegen. Was würde ich nur ohne diese ekstatische Tastenbegleitung machen? Da mir genau in diesem Augenblick die tatsächliche, anhaltende Stille bewußt wird, weiß ich die Antwort: Augen aufreißen!!! Verwundert blicke ich zum Schreibtisch und halte den Atem an. Sanne sitzt wie erstarrt. (Stiert aber beruhigenderweise weiter in ihren Monitor). Und, seltsam: Auch um sie herum bewegt sich nichts. Die Luft scheint eingefroren, selbst die Rauchfäden kräuseln sich nicht, das blaue Leuchten des Schirms liegt still im Raum. Interessiert betrachte ich das Stilleben. Dann beginnt der Monitor sich zu bewegen, buchtet sich wichtig aus, nähert sich ihrem Gesicht. Wie langweilig - Special-Effects, die bereits tausendmal verwendet wurden. Gleich wird er sie in seine Maschinenwelt einsaugen, gähn... Doch, halt! Was soll das? Plötzlich wieder starr, verharrt das Ding auf halber Strecke. Dafür zieht sich jetzt Sannes Gesicht in die Länge, ihm entgegen. Sieht lustig aus. Sie öffnet den Mund, der Monitor wird anscheinend zu flüssigem Glas und verschwindet in ihr. Auweia! Jetzt erhebt sie sich aus ihrem Drehstuhl, wirkt dabei wie ferngesteuert, seltsam eckige Bewegungen sind das. Zack, mit einemmal reißt sie sich die Kleider vom Leib. Ich bin fasziniert und sehr einverstanden mit dieser Entwicklung. Leider ist mein lüsternes Frohlocken von kurzer Dauer, denn jetzt beginnt sie auch noch eine optische Veränderung: Sie wird gläsern, durchsichtig, wohl eine Folge der ungewöhnlichen Mahlzeit. Sieht ziemlich abgedreht aus, vor allem die Haare. Denn die stehen wie bizarre Eiszapfen vom Kopf (?) weg und klirren leicht aneinander. Ich fürchte den Blick auf die Eingeweide, bemerke aber bald, daß ich dazu keinen Grund habe: In ihr wuselt, schwirrt und wirrt es nur so. Lämpchen blinken lustig rot, blau und grün, URLs hetzen und wetzen, drehn sich um sich selbst, Fatal-Error Meldungen jagen einander. Nett sieht das alles aus. Sanne öffnet erstaunt ihre gläsernen Lippen und sagt: "11100100001111". Verschreckt klappt ihre Glaslade wieder nach oben. Ich genieße... Sicherheitshalber beschränkt sie sich darauf, das Zimmer zu durchwandern. Sie hinterläßt dabei dunkellila schimmernde Fußabdrücke. Na klar, besuchte Links! Um Normalität bemüht, greift sie sich ihre geliebte Cola-Flasche. Die wird in ihren Händen erst zu Luft, auf dem Weg nach oben zu einem Drahtgittermodell und kurz vor ihren Lippen legt sich eine Textur darüber, so daß das Ding wieder wie eine normale Flasche aussieht. Beim Trinken sehe ich durch ihren gläsernen Hals Zahlenkolonnen rinnen. Das alles reißt mich zu wahren Begeisterungstürmen hin, auch ihre wilden Blicke können da nichts mehr ändern. Das personifizierte Internet betrachtet mich sichtlich angewidert und wendet sich ab. "Wenn schon", denke ich und beobachte weiter. Sie stößt mit ihren Eishaaren leicht gegen die Wand und "klirr" springen die Dinger auch schon ab und zerschellen auf dem Fußboden. Echt lustig. "Ja, das ist meine", beginne ich zu phantasieren. "Seit wann sie die Glatze hat? Och, ist schon ein paar Jahre her, damals hat sie sich beim Gehen die Haare gebrochen! Perücke will sie keine!" Ob ich sie wohl ausstellen könnte? Ich sehe eine Unzahl Möglichkeiten vor mir: Die lebende Glühbirne! Donald Duck, Bill Gates und die Folgen! Der gläserne Mensch und sein Darmtrakt! Gefahr Internet! Das Fernsehen wird sich um mich reißen, Exclusivstorys jagen einander. Die Zukunft hat all ihre Schrecken verloren. Jedenfalls für mich. Ich werde reich werden, was sag ich: stinkreich! Und erst so richtig unausstehlich! Tausend Dank, all ihr AOLs, MSNs, Compuserves und wie ihr alle heißt. Selig schließe ich die Augen, kaum gestört von Sannes leisem Klirren, das ihre traurige, stete Zimmerwanderung begleitet. Das Leben ist doch herrlich, oder? Nachtrag: 2 Tage später sagte sie: "1000010001111001111100011110101110", was wohl: "Ich glüh' durch" heißt, denn seitdem steht sie still und setzt Staub an. Weiß jemand einen kostengünstigen EDV-Techniker, möglichst Nähe Frankfurt?

copyright Volker Heil