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ANOPHELE [ano:fele:] oder - die Geschichte einer Stechmücke



Anophele kam bei vollem Mond zur Welt, mitten in der Regenzeit. Sie schlüpfte aus ihrer Hülse, in der sie Wochen verbracht hatte, und entfaltete vorsichtig ihre zierlichen Flügel - erst den einen, dann den anderen. Probehalber flatterte sie ein bisschen damit und setzte sich dann auf ein Blatt, das nass war von Regen. Hübsch war sie anzusehen - mit den zarten Beinchen und den durchschimmernden, marmorierten Flügeln, die im Wind leicht zitterten. Anophele blickte auf den Tümpel unter dem Baum, beobachtete Hunderte ihrer Schwestern und Brüder, die es ihr nachmachten und die Hülse abstreiften, die sie mehrmals gegen eine jeweils größere gewechselt hatten und nun endgültig nicht mehr brauchten. Ein Flattern und Wispern und Gähnen erfüllte die feucht-heisse Luft. Anophele merkte, dass sie hungrig war. Sie spreizte ihre Flügel und flog aus dem Wald hinaus. Unter ihr breitete sich ein Dorf aus, kleine geduckte Lehmhütten auf einer Lichtung. Einige Männer saßen um ein Feuer, lachten, redeten. Anophele landete auf einer nackten Schulter, bohrte ihren Stachel unter die schwarze Haut und begann gierig zu saugen. Der Mann klatschte mit einer Hand in ihre Richtung, verfehlte sie nur knapp. Erschreckt taumelte sie zum nächsten; diesmal war sie klüger, setzte sich mitten auf seinen schweißglänzenden Rücken und saugte lang und genüsslich. Die Verrenkungen, die der Mann vollführte, nutzten ihm nichts. Für's Erste war Anophele satt. Ein angenehmer Geruch stieg ihr in die Nase, sie folgte ihm und gelangte in eine der Hütten. Menschen hockten auf dem Boden und mampften Fladenbrot und Eintopf. Anophele sah zu - einmal von der einen, dann wieder von der anderen Schulter aus - wie sie aus dem Brot Stücke rissen und damit ihre Schüsseln ausputzten, wie sie dabei eine Menge Geräusche produzierten. Dann rollten sich die kleineren Bewohner in einer Ecke der Hütte zusammen und schliefen bald darauf ein, die größeren traten lärmend ins Freie, wahrscheinlich stießen sie zu den andern am Dorffeuer. Anophele betrachtete eingehend das rosige Gesicht des kleinsten Menschen, setzte sich auf dessen Stirn. Dieser hier roch anders als die Übrigen. Sie saugte ein wenig an der Wange des Winzlings und flog dann aus der Hütte hinaus. Ein riesiger Mond leuchtete ihr. Als sie sich am Lagerfeuer auf einem samtigen Frauenarm niederließ kam sie ins Staunen: mindestens 50 andere aus ihrer Sippe waren bereits da und es herrschte ein ziemliches Durcheinander; und eine der Schwestern meinte atemlos: "Wir sind hier schon so viele - kannst du dir nicht ein anderes Revier suchen?!" "Kein Problem", grinste sie, breitete die Flügel aus und flog davon.

copyright Christine Jurasek


(In Brehms Tierleben lese ich: Am Orinoco ist die erste Frage, mit der man morgens einen Freund begrüßt: "Wie haben sich die Moskitos diese Nacht aufgeführt?")