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Chancen



Der adrett gekleidete, junge CNN-Mitarbeiter, der gestern abend den Wetterbericht verkündet hatte, war eben auch nur ein Mensch. Der vorhergesagte Regen war ausgeblieben und nicht das kleinste Wölkchen zeigte sich am strahlend blauen Himmel. Jetzt, am späten Nachmittag, war es angenehm warm und ein laues Lüftchen umschmeichelte sanft meine nackten Beine. Komisch. Würde es jetzt regnen, hätte ich mich nicht an den Mann erinnert. Aber so ist es meistens: Niemand nimmt zur Kenntnis, wenn man etwas richtig macht, aber wehe, du begehst einen Fehler. Heute war es anders. Wenn ich gewann, würde man mich feiern, wenn nicht, würde mir niemand ein Vorwurf machen. Ich hatte nichts zu verlieren. Toller Spruch. Hör auf, dich selbst zu belügen! Wenn du nicht gewinnst, hast du den Sieg verloren. Es gibt Chancen, die hat man nur einmal im Leben. Und du selbst wirst es sein, der dir Vorwürfe macht. Wie war das, als du noch klein warst und deine Großeltern besucht hast? An diesem einen Tag im Juni. Opa war krank, seit Jahren schon. Niemand wußte, um was für eine Krankheit es sich handelte, geschweige denn wie man sie heilen könnte. Er fiel einfach in sich zusammen. Er saß in seinem Sessel, war nicht mehr in der Lage zu sprechen und seine Hände ruhten zitternd und kraftlos auf den Armlehnen. Du hattest Angst vor ihm, Angst vor deinem eigenen Großvater, weil du es nicht verstanden hast, nicht verstehen konntest. Meine Güte, du warst gerade mal sechs Jahre alt! Der Mann, der dort saß, war für dich zu einem Fremden geworden, hatte nichts mehr dem netten älteren Herren gemein, der ab und zu mit dir gespielt hatte. Den ganzen Nachmittag über hast du dich in irgendeine Ecke verzogen und stumpfsinnig mit irgendwelchen Bauklötzen hantiert, um diesen zitternden alten Mann nicht sehen zu müssen, und als deine Mutter kam und dir sagte, du sollst dich verabschieden, denn ihr würdet gleich fahren, da hast du dich aus dem Haus geschlichen. Hast dich aus dem Haus geschlichen und dich im Auto zwischen Rückbank und Fahrersitz versteckt. Wen du nicht sehen kannst, der kann dich auch nicht sehen. Genauso gut hättest du dir die Augen zuhalten können, aber damals war es logisch. Weder deine Mutter noch zehn Pferde hätten dich dazu bringen können, diesem Mann gegenüberzutreten. Was kümmerten dich die Gefühle eines Fremden, wenn du nicht einmal deine eigenen verstehen konntest. Also seid ihr gefahren, ohne daß du deinem Opa Lebewohl gewünscht hast. Ob er diesen Rat dann befolgt hätte, bleibt offen. Zwei Tage später war er tot.

But me I'm all emotional no matter how hard I try
You're gone and I'm still here alive
You're gone and I am still alive
And I didn't get a chance to say goodbye
No - I didn't get a chance to say goodbye


There are things we say we wish we knew and in fact we never do
But I wish I'd known that you were gonna die
Then I wouldn't feel so stupid, such a fool that I didn't call
And didn't get a chance to say goodbye
I didn't get a chance to say goodbye

Dieses Gefühl schien eines von zwei Dingen zu sein, die ich mit Lou Reed gemeinsam hatte. Das andere war die Tatsache, daß ich nicht singen konnte. Bob Dylan konnte es auch nicht, Neil Young ebensowenig. Warum faszinierte mich ihre Musik dann so sehr? Weil sie ehrlicher war? Weil sie sich trotzdem einfach mit einer Gitarre in die Ecke setzen konnten, und wenn sie spielten mehr Leidenschaft, mehr Lebensgefühl, mehr Tiefe vermittelten, als Michael Jackson & Co. es je schaffen würden? Oder war ich nur neidisch, weil ich selbst gerne gelernt hätte, Gitarre zu spielen. Weil ich mir manchmal vorstellte, ich stünde dort auf der Bühne und fasziniere das Publikum - obwohl ich nicht singen kann... Nun, ich hatte mich für den Sportplatz entschieden. Ich hatte ein anderes Publikum. Ich hatte nie die Zeit, ein Instrument zu lernen. Sportplatz. Publikum. Zeit. Eineinhalb Minuten. Plötzlich wurde ich mir wieder bewußt, was ich hier eigentlich tat. Olympische Spiele. Hochsprungfinale. Letzter, alles entscheidender Versuch. Alle anderen waren an dieser Höhe gescheitert. Ich hatte die letzte ausgelassen (im Training sicher geschafft). Absurde Konstellation. Latte fällt - vierter Platz. Latte bleibt liegen - Goldmedaille. Ich hatte mein Leben lang für diesen einen Sprung trainiert. Von den eineinhalb Minuten Vorbereitungszeit blieben mir jetzt noch fünfzehn Sekunden. Keine Zeit mehr nachzudenken. Ich lief los ... ... und ich sprang.

copyright 09/97 Oliver Bonkowski