Die Bewahrer

Noch bevor ich die Augen öffnete, schlossen sich die Finger meiner rechten Hand wie von selbst um Rache, meinen Bogen. Ich hatte meinem treuen Begleiter diesen Namen gegeben, damit ich niemals meine Mission vergaß, eine Mission, auf die ich von Kindheit an vorbereitet worden war. Zum ersten Mal war ich nun hier in der Fremde, nur eine unerhebliche Aufgabe hatte ich zu erfüllen, ein wenig umsehen sollte ich mich und dann heimkehren und berichten. Die Ältesten unterzogen mich der üblichen Prüfung, das war mir klar, auch wenn sie es nicht geäußert hatten. Ich zweifelte keine Sekunde an meinem Erfolg, die Aufgabe war schon fast beschämend leicht für mich, den Jüngsten und Besten der derzeitigen Anwärter. Bewährte ich mich, würden die Herausforderungen steigen, und ich gierte danach, denn ich wollte endlich tun, was meine Bestimmung war, endlich mein Schicksal erfüllen.

Etwas war anders in diesem Wald. Etwas, das nicht da gewesen war, bevor ich mich im Schutze von Büschen und Bäumen zu einer Ruhepause auf den weichen Boden gelegt hatte. Der Geruch der modrigen Erde drang in meine Nase. Weit entfernt hörte ich das hohe Kreischen unbekannter Kreaturen, vor mir das sanfte Plätschern des Baches, aus dem ich noch vor kurzer Zeit Wasser geschöpft und meinen Durst gestillt hatte. Ich lag auf der Seite und änderte meine Position nicht. Aber ich öffnete die Augen.
Die Büsche verbargen mich, doch nicht das Wesen, das sich am Ufer des Baches zu schaffen machte. Zuerst dachte ich, dass sie unbekleidet sei, vielleicht gebadet hätte, doch dann erkannte ich dass es nur ihr Oberkörper war, der entblößt war, sie wandte mir den Rücken zu, ungewöhnlich hellhäutig, ein Schwall langer seidiger Haare von der rosigen Farbe der Abenddämmerung floss in Wellen über ihn.
Sie entwich meinem Blickfeld, als sie sich niederbeugte, und als sie sich wieder erhob, schaute sie sich schnell nach allen Seiten um und ich konnte ihr Gesicht sehen. Der Anblick traf mich wie ein Schlag. Das Gesicht eines Engels. So nah, dass ich die goldene Farbe ihrer Augen erkennen konnte. Augenblicklich war ich überzeugt, eine Gottheit vor mir zu haben, noch niemals zuvor hatte ich solche Schönheit erblickt.
War ich eben noch nur unbeweglich gewesen, so erstarrte ich jetzt zu einem Felsen, wurde eins mit dem Boden unter mir, ich wusste ich war des Todes, wenn sie mich entdecken würde.
Der Engel blickte konzentriert auf seine mir zugewandte nackte Schulter, dann hob er plötzlich die Hand mit einem glänzenden Dolch, biss die Zähne zusammen und ritzte sich die Haut von der Schulter über den Oberarm auf, so dass das Blut in Strömen floss. Nicht nur mein Körper war wie gelähmt, auch meine Gedankengänge schienen es zu sein, denn ich benötigte eine Weile bis mir klar wurde, dass es Zeichen waren, die sie für immer in ihre Haut schnitt – sie schrieb etwas. Und ich erkannte, dass sie keine Göttin sein konnte. Götter bluten nicht.
Es tat mir in der Seele weh mit anzusehen, wie dieses unvergleichliche Wesen sich verstümmelte und ehe ich noch darüber nachdenken konnte, war ich auch schon aufgestanden und ging auf sie zu, im gleichen Moment, als sie grimmig auf ihre Wunden schauend, mit hasserfüllter Stimme „Rache“ flüsterte. Zu meinem Erstaunen sprach sie in einer sehr alten, von Vielen vergessenen Sprache, die Sprache einer Zeit, als noch eins war, was heute zerbrochen ist. Ich bin dieser Sprache mächtig, weil die Uralten unseres Volkes sie an uns Junge weitergeben, damit sie nicht vergessen werde.
Dann wurde sie meiner gewahr und ehe ich auch nur blinzeln konnte, spürte ich das Messer, das eben noch ein Schreibwerkzeug gewesen war, an meiner Kehle. Sie war von meiner Größe, stand mir gegenüber, Aug in Aug, ich weiß nicht, wie sie sich so schnell bewegen konnte. Normalerweise bin ich es, der sich schneller bewegt als ein Schatten. Ihr goldener Blick, umrahmt von dichten silbernen Wimpern, ging tief in mich hinein, und ich kann nicht sagen was er fand, aber der stählerne Druck auf meiner Kehle schwand und sie trat einen Schritt zurück.
Ich gestikulierte beschwichtigend, fürchte dich nicht, ich tue dir nichts, versuchte ich ihr damit zu sagen.
Sie trat noch einen Schritt zurück, angespannt, auf der Hut, abwartend, abschätzend. Ihr Blick glitt zu dem bedrohlichen Kunstwerk aus weißen Knochen, das Rache war, mein Bogen. Er befand sich noch immer in meiner rechten Hand.
„Verzeiht“, murmelte ich betreten und ließ ihn zu Boden gleiten.
Blut troff von ihrem Arm. Ich griff in mein Hemd, was sie sofort den Dolch heben ließ, jedoch auch gleich wieder sinken, als ich das wollene Tuch hervor zog, das ich dort barg. Ich reichte es ihr, aber sie schaute nur verständnislos, also ging ich betont langsam auf sie zu und drückte es schließlich auf ihren zerschnittenen Oberarm.
Sie bewegte sich nicht, aber die Anspannung in ihrem Gesicht wich und ein winziges Lächeln kräuselte ihre Mundwinkel. In ihre goldenen Augen, die mich wachsam im Blick hatten, schlich sich ein warmer Schein.
„Du bist zum ersten Mal in dieser Gegend?“ Wieder bediente sie sich der alten Sprache. Ihre Frage klang wie eine Feststellung.
Deshalb nickte ich nur.
Wenn sie überrascht war, dass ich sie verstehen konnte, so ließ sie es sich nicht anmerken.
„Du bist nicht ohne Grund hier?“
Zorn wallte augenblicklich in meinen Adern, doch ich bewahrte Ruhe, nahm das Tuch nicht von ihrem Arm. Mit der freien Hand deutete ich auf meinen Bogen, der unschuldig am Boden lag, meine tödliche Waffe.
„Das ist Rache„, erklärte ich in den Worten der alten Sprache.
„Du wirst töten“, sagte sie ruhig.
Ich nickte. Oh ja. Bald.
Mit sanftem Griff löste sie meine Hand von ihrer Schulter und nahm sich das Tuch. Sie deutete auf die Zeichen. Die Schnitte bluteten nicht mehr.
„Was bedeutet es?“ wollte ich wissen.
„Rache“, erwiderte sie. „Ich will nie mehr vergessen, was meine Mission ist.“
Ich schnappte nach Luft bei diesen Worten.
„Du also auch?“ fragte ich, plötzlich aufgeregt. Mir schwindelte angesichts der Möglichkeiten, die sich auftaten. Sie könnte mit mir kommen. Nein, ich würde einfach hier bleiben. Und irgendwann ehrenvoll heimkehren, mit ihr, die Erwartungen der Ältesten um Längen übertreffen. Sie und ich. Ich und sie.
„Dann lass uns zusammen weiter ziehen, lass uns Seite an Seite kämpfen!“ Meine Stimme überschlug sich beinahe.
Doch ihr Anblick ließ mich innehalten.
Ihre Augen schimmerten von unerwarteter Feuchtigkeit, tiefe Traurigkeit legte sich wie Nebel über ihr Antlitz. Eine eiskalte Hand griff nach meinem Herzen und nahm mir den Atem.
„Was?“ flüsterte ich und wie von selbst legten sich meine Arme um sie, zogen sie an meine Brust und sie ließ es geschehen. Es fühlte sich an, als sei genau dies der Ort, an den sie gehörte.
Für einen Augenblick waren Ewigkeit, Vergangenheit und Zukunft eins, für eine Sekunde schimmerte ein Bruchstück vom Paradies in greifbarer Nähe.
Dann schob sie mich sanft von sich, drückte ihre Lippen in das blutbesudelte Tuch und ihre Tränen dazu, berührte damit meinen Mund, dann mein Gesicht in zärtlicher Geste, als wolle sie sich jede Linie einprägen, glitt mit der Hand, die das Tuch hielt, unter mein Hemd, platzierte es über meinem Herzen und ließ es dort.
„Bewahre mich, Asmodier„, wisperte sie, „so wie ich dich bewahren werde.“
Ich schluckte schwer, unfähig zu sprechen, versteinert. Ich wusste nicht, was vorging, aber mein Herz raste in unheilvoller Vorahnung. Reglos schaute ich zu wie sie in einer Bewegung ihr Oberteil vom Boden hob und es überstreifte, den Dolch im Gürtel verwahrte. Eine Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht, zog eine zarte rötliche Linie von ihren hellen feinen geschwungenen Augenbrauen über die kleine kecke Nase bis zu ihren vollen Lippen. Dort blieb mein Blick hängen, für immer würde ich mich danach sehnen, sie ein einziges Mal auf den meinen zu spüren.
In einer müden, aber entschlossenen Bewegung strich sie die Strähne fort und richtete sich auf. Dann wandte sie sich ein letztes Mal zu mir, streckte eine Hand aus und auch ich tat es, bis sich unsere Finger berührten und ineinander verschlangen. Unsere Augen taten es ihnen nach.
Im nächsten Moment ging ein heftiges Beben durch ihren Körper und ihrem Rücken entspross ein riesiges Flügelpaar, weiße Schwingen wie aus Schnee, einem Engel gebührend, breiteten sich anmutig aus, ein letzter Druck ihrer Finger und sie schwang sich hinauf in die Luft, eine kraftvolle Drehung, ein seufzender Hauch im Wind „Lebewohl“ und sie entschwand am Himmel in Sekundenschnelle.
Meine Knie wurden weich, gaben nach, ich musste mich setzen. Ich stützte die Arme auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen. Wie hatte ich nur so blind sein können? Jetzt erinnerte ich mich, natürlich, an die alten Erzählungen, in denen sie beschrieben wurden. Aber nie hatten sie von dieser einzigartigen Schönheit gesprochen, abstoßend, abscheulich, hassenswert – das waren die Worte derer sie sich bedienten. Wie hätte ich es ahnen können?
Von all den mir unbekannten Lebewesen auf diesem mir noch unbekannten Teil unserer einstmals vereinten Welt war ich dem einen als ersten begegnet, das zu töten ich geschworen hatte, das zu töten meine Mission war.
Mein Engel war eine Elyos.
Ich sollte mich schäbig fühlen, weil ich ihr geholfen hatte, aber ich konnte es nicht. Ich sollte vor Wut entbrannt sein, aber jeglicher Zorn, der jemals in mir geweilt hatte, war verflogen. Ich sollte Demütigung empfinden, weil sie mich getäuscht hatte, aber ich fühlte mich nicht getäuscht.
Obwohl es nicht kalt war, fröstelte mich, ich zitterte am ganzen Körper. Doch dann wurde ich einer Stelle gewahr, an der ich Wärme verspürte. Ich griff hinein in mein Hemd und meine Hand fand das wollene Tuch über meinem Herzen. Fand ihr Blut, ihre Tränen und ihren Kuss. Und die Bedeutung von all dem.
Nach einer langen Weile stand ich auf und hängte meinen Bogen um. Ich sah den Bach, ich sah den Wald, ich sah den Himmel, wie ich sie schon zuvor gesehen hatte. Und doch sah ich alles anders. Alles wie zum ersten Mal. Sie hatte meine Welt verändert, in einem einzigen viel zu kurzen Augenblick. Dies war Elysea – ihre Welt.

Ich bin ein Späher und ich muss zurück zu meinen Leuten.
Ich breite meine nachtschwarzen Schwingen aus und mache mich auf den Heimweg durch das Rift.
Von nun an werde ich für immer ein Fremder unter meinem Volk sein. Der sie verraten hat und belügen wird, ohne dass sie es jemals erfahren werden.
Ich bringe ihnen den Feind.
Ich bewahre ihn in meinem Herzen.

© Susann Ulshöfer

Infos:
Die Urversion dieser Geschichte entstand am 1.6.2009 unter dem Titel „Rache-Engel“ anlässlich der Beta-Key Verlosung auf ->AION Onlinewelten, wo man für die Teilnahme an der Verlosung entweder Fragen beantworten oder etwas „Kreatives“ einreichen konnte :-)

In der vorliegenden überarbeiteten und wesentlich längeren Version vom 6.7.2009 wurde sie Teil des RP-Projekts der Old Heroes, meiner (damaligen) AION Legion.

Bei den beschriebenen Figuren handelt es sich um „Wesen“ wie sie in dem Online Rollenspiel ->„AION“ vorkommen. Asmodier und Elyos sind dabei gegnerische verfeindete Fraktionen. Mein Copyright bezieht sich rein auf die um diese Figuren und Orte erfundene Geschichte – der Rest bleibt natürlich -> NCSOFT vorbehalten :-)

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