Der Flaschengeist

„Dann tu es doch endlich, lass dich doch scheiden“, brüllte der Vater.
Nina verkroch sich tief unter ihre Aladdinbettdecke.
„Das werde ich auch!“ schrie die Mutter.
Nina hielt sich zusätzlich die Ohren zu. Das bewirkte, dass ihr Herz plötzlich in ihren Kopf rutschte, ein lautes Wummern und Pochen. Es war erstaunlich, dass sie trotzdem noch jedes Wort verstehen konnte, auch wenn der Streit jetzt wie in Watte gepackt zu ihr durchdrang.
„Wenn du meinst, dass ich dich brauche, hast du dich geschnitten!!“ polterte ihr Vater. Dann polterte etwas anderes. Und schepperte. Papa war bestimmt wieder gestürzt.
Stille. Dann Papa, laut: „Ich brauche deine Hilfe nicht!“
Und dann ein Klatschen.
Nina zuckte zusammen. Das Geräusch kannte sie. Manchmal, wenn Papas böser Geist wieder da war, hatte er ihr eine Ohrfeige versetzt. Die klatschte dann auch immer so.
Wieder war Stille. Nina zitterte. Sie hielt es kaum aus. Dann Mama, mit ganz komischer Stimme, so wie sie manchmal eine Stimme hatte, bevor sie ihren Mittagsschlaf hielt. Wenn sie ganz müde war. Nur lauter.
„Du schläfst deinen Rausch jetzt aus. Auf dem Sofa. Morgen verlässt du dieses Haus.“
Dann knallte die Wohnzimmertür zu und Nina hörte, wie Mama näher kam. Schnell schob sie ihr heißes Gesicht unter der Decke hervor auf das Kopfkissen, machte die Augen ganz fest zu und tat so, als würde sie schlafen. Mama stand einen Augenblick lauschend im Türrahmen, dann entfernten sich ihre Schritte in Richtung Schlafzimmer. Nina hörte wie sie die Tür ins Schloss zog. Für eine kurze Zeit meinte sie Mama weinen zu hören. Dann wurde es still. Im ganzen Haus. Das war fast noch schlimmer, als wenn Mama und Papa sich anschrien. Nina langte nach Dschinni und nahm ihn ganz fest in die Arme. Sie drückte ihr Gesicht an seinen weichen blauen Stoffkörper.
„Du bist mein einziger Freund,“ flüsterte sie und schon begannen ihre Tränen zu fließen. Das Schluchzen kam von ganz unten aus ihrem Bauch, und sie strengte sich so sehr an, leise zu schluchzen, dass sie fast keine Luft mehr bekam. Irgendwann beruhigte sie sich ein bisschen und guckte in Dschinnis lächelndes Gesicht.
„Du bist ein guter Geist,“ wisperte sie. „Warum kannst DU nicht in Papas Flaschen wohnen? In Papas Flaschen ist ein schlimmer Geist. Wenn Papa aus der Flasche trinkt, schluckt er den bösen Geist mit runter. Und dann wird Papa ein böser Mann. Ich habe dann Angst vor dem Mann. Mama weint oft wegen dem bösen Mann.“
Sie streichelte über den Kopf der blauen Puppe, die Genie-Figur aus dem Disneyfilm „Aladdin“. Nina hatte den Film schon zweimal gesehen. Und Oma hatte ihr den Video zu Weihnachten geschenkt. Sie wusste, dass der Dschinni in Aladdin Wunder zaubern konnte. Und so kam sie nach einer Weile auf eine Idee.

Leise tappten die kleinen nackten Füße zur Schlafzimmertür der Mutter. Dort war es ruhig. Nina drehte um und schlich zum Wohnzimmer. Die von Feuchtigkeit dunklen Fußabdrücke auf dem Flur, die zu ihrem Zimmer hin und auch wieder wegführten, sah sie nicht. Die Tür war einen Spalt weit offen. Sie lugte vorsichtig in das Zimmer und sah im matten Licht des Mondes, das durch das Fenster hereinfiel, einen kleinen Berg auf dem Sofa. Der Berg röchelte und schnarchte. Papa unter der Sofawolldecke. Auf dem Boden lagen kaputte Flaschen, dazwischen ein umgestürzter Stuhl, es sah nass aus dazwischn. Außerdem stank es ganz furchtbar. Es stank nach dem bösen Geist.
Sie zögerte einen Moment, und guckte dem Dschinni ins Gesicht. Er lächelte sie an. Nina drückte ihn fest an sich und betrat ganz vorsichtig das Zimmer. Die kaputten Flaschen waren nicht mehr gefährlich für Papa. Sie waren nur gefährlich für ihre Füße. Aber da brauchte sie auch nicht hin. Sie musste zu den gefährlichen Flaschen. Nina wusste, wo Papa sie versteckte.
Sie ging, wie die Figuren in einem Film, in dem die Zeit ganz langsam lief, rüber zu dem Schrank, wo einmal der Fernseher drin gestanden hatte. Der Fernseher stand jetzt auf einem eigenen Fernsehertisch und in dem Schrank standen Papas Flaschen.
Die Schranktür knarrte, als Nina sie öffnete. Ein Schreckenslaut entfuhr ihr. Aber Papa schnarchte nur lauter, sonst passierte nichts.
Nina zog die Tür weiter auf und da waren sie. Eins, zwei, drei zählte sie an ihren Fingern. Und noch mal eins, zwei, drei. Und noch mal. Und noch eins, zwei. Nina war froh, dass die Flaschen verschlossen waren.
Sie nahm den Dschinni, drückte ihm einen dicken Kuss auf die blaue Stirn und flüsterte: „Lieber Dschinni, bitte zaubere ein Wunder. Mach, dass der böse Geist Angst vor dir hat und ganz weit weg läuft und nie wieder zu Papa kommt.“ Sie überlegte einen Moment und fügt hinzu: „Amen.“ Dann setzte sie die Figur mitten zwischen die Flaschen. Das letzte was sie von dem Dschinni sah, war sein Gesicht, das ihr zulächelte. Zaghaft lächelte sie ein ganz klein wenig zurück. Dann drückte sie die Tür zu. Wieder knarrte sie. Papa schnarchte weiter.
Nina guckte ihm noch ein bisschen beim Schnarchen zu. Gerne hätte sie Papa geweckt und ihm gesagt, dass alles gut werden würde. Aber sie traute sich nicht. Weil doch die vielen kaputten Flaschen auf dem Fußboden lagen. Also warf sie ihm nur eine kleine Kusshand zu.

Ihre Füße waren ganz kalt, als sie wieder im Bett lag. Sie zog ihre Knie hoch an die Brust, schlang die Arme darum. Dschinni fehlte ihr, aber sein lächelndes blaues Gesicht mit den lustigen Augen sah sie vor sich. Als sie merkte, dass ihr davon ganz warm wurde, war sie auch schon eingeschlafen.

Am nächsten Morgen weckte sie die Sonne, weil sie ihre Nase kitzelte. Nina öffnete die Augen, sah Dschinni und nahm ihn in den Arm. Sie gähnte. Dann klappte ihr Mund zu. Etwas stimmte nicht. Sie hörte Lachen. Und warum war Dschinni da?
Schnell hüpfte sie aus dem Bett und huschte zum Wohnzimmer. Der Stuhl stand ordentlich am Tisch, auf dem Boden waren keine Scherben zu sehen, die Wolldecke lag zusammengefaltet auf dem Sofa. Da, wo sie immer lag. Nina lief schnell zum alten Fernseherschrank und öffnete die knarrende Tür. Darin stand der Fernseher. Sie guckte zum Fernsehertisch. Darauf stand Mamas blaue Vase mit ganz vielen roten Rosen darin. Jetzt wusste sie auch, was so gut duftete im Zimmer.
Sie lief in die Küche.

Papa und Mama deckten gerade den Frühstückstisch. Nina stand in der Tür und schaute ihnen zu, wie sich immer wieder anlächelten.
Dann sahen sie Nina.
Papa guckte Mama an. Mama guckte Papa an, und setzte sich an den Tisch. Papa kam zu Nina und ging vor ihr in die Hocke.
„Hi Spatz“, sagte er. Mit richtiger Papa-Stimme.
Dann sagte er was Komisches. „Hallo Dschinni “. Und guckte Dschinni dabei an, den sie in den Armen hielt. „Danke für deine Hilfe“, sagte er zu Dschinni. Und zu ihr sagte er: „Kommt ihr frühstücken?“
Nina setzte sich auf ihren Platz. Papa holte noch einen Stuhl, stellte ihn neben sie, nahm ihr Dschinni aus dem Arm und setzte ihn auf den Stuhl. Jetzt saß er zwischen ihr und Mama. Mama beugte sich rüber, drückte ihr einen Kuß auf die Wange und sagte: „Guten Morgen, mein Schatz. Möchtest du Frosties zum Frühstück?“ Dann machte sie etwas Komisches. Sie beugte sich zu Dschinni und gab ihm auch einen Kuß auf die Wange. „Danke für deine Hilfe“, sagte sie.
Und zu ihr: „Möchte Genie auch Frosties frühstücken?“
Nina schüttelte den Kopf und sagte zum ersten Mal auch etwas: „Aber Mama, Dschinni kann doch gar nichts essen.“
Da musste Mama lachen. Und Papa lachte auch. „Aber ich möchte Frosties“, sagte er.
Nun lachte Nina. Papa hatte noch nie Frosties gegessen.
Dschinni hätte bestimmt auch gelacht, wenn er eine Stimme gehabt hätte.
So lächelte er nur. Aber wie!

© Susann Ulshöfer

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